Die Rückkehr an den Ort des Grauens ist für Yvonne Koch jedes Mal ein Kraftakt. Als Zehnjährige wurde sie aus der Slowakei ins Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt. Fünf Monate lang durchlebte das Mädchen hier die Hölle. Bei der Befreiung des KZ am 15. April 1945 lag es fast verhungert im Koma.
70 Jahre ist das nun her. Yvonne Koch steht im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen und blickt aus der Fensterfront auf die Heidelandschaft mit Kiefern und Birken. "Das ist alles Friedhof, da liegen all die Toten, und ich lebe noch", sagt die zierliche 81-Jährige und ihre Miene verdüstert sich.
Vier Gespräche mutet sie sich im Jahr zu
Am Abend will Yvonne Koch mit Jugendlichen aus neun Staaten über ihre Erlebnisse sprechen. Etwa vier solcher Gespräche pro Jahr mutet sie sich zu. Ihr Ehemann ist dann immer an ihrer Seite, falls die schrecklichen Erinnerungen sie überwältigen. Ihre Eltern waren jüdischer Abstammung, hatten aber geglaubt, als getaufte Christen vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt zu sein. Nachdem das Paar untertauchen musste, versteckte es die einzige Tochter in einem Kloster-Internat. Doch das Versteck wurde verraten, und das Mädchen im November 1944 in einem Viehwaggon nach Bergen-Belsen deportiert.
"In meiner Baracke waren 60 Frauen, die waren so herzlos, es gab keine Solidarität", erinnert sich die Überlebende. Oft wurden dem Kind sein ohnehin winziger Anteil Rübensuppe oder sein Stückchen Brot gestohlen. Als die Kleine am 7. Dezember elf Jahre alt wurde, betete sie wie jeden Tag und hoffte darauf, dass ihre Eltern sie endlich aus dem Alptraum befreien. Stundenlang mussten die ausgemergelten Häftlinge ab 5.00 Uhr morgens beim Zählappell regungslos stehen. Wer sich bewegte, wurde misshandelt oder erschossen.
"Die Handschuhe waren mein Heiligtum"
Nach dem Appell trieb sich das unbeaufsichtigte Kind oft auf der Suche nach Essbarem in der Nähe der Küchenbaracke herum. Dort traf sie eine Frau, vermutlich eine Russin, die ihr erst eine Rübe und eines Tages ein Paar gestrickte Handschuhe gab. "Das war die einzige menschliche Wärme, die ich im Lager erlebt habe. Die Handschuhe waren mein Heiligtum. Ich klammerte mich an sie wie andere Kinder an ihren Teddy", erzählt Yvonne Koch, die damals noch Poláková hieß.
Die vermutlich aus Fäden einer Pferdedecke gestrickten Fäustlinge liegen im 2007 eröffneten Dokumentationszentrum in einer Glasvitrine. Als das Lager am 15. April 1945 befreit wurde, muss ein britischer Soldat oder Sanitäter erkannt haben, dass die auf einer Pritsche liegende Elfjährige noch lebte. Er brachte das bewusstlose Mädchen ins Lazarett, die Handschuhe wurden ihm gelassen.
Am 29. Juni 1945 sah Yvonne ihre Eltern in Prag wieder, konnte die Mutter aber nicht einmal umarmen. "Ich hatte nur den Wunsch nach einem sehr langen Brot, so abgestumpft war ich." Mit dem Vater und der Mutter sprach das Mädchen nie über die Zeit in Bergen-Belsen. "Damals dachte man, Verdrängung sei das beste", sagt Yvonne Koch heute. Sie trieb viel Sport, studierte Mikrobiologie, gründete eine Familie, forschte unter anderem in den USA an einem Aids-Projekt und lebt heute in Düsseldorf.
"Damals dachte man, Verdrängung sei das beste"
Das Verdrängte bricht in ihrem glücklichen Familienleben manchmal völlig unerwartet hervor. Wenn sie einen Schäferhund sieht, denkt sie an die Aufseherinnen, die "Fass!" brüllten, wenn ein Häftling sich beim Zählappell bewegte, und das am Boden liegende Opfer erschossen. Auf einem abstrakten Gemälde im Museum of Modern Art in New York erkennt sie plötzlich Leichenberge und muss die Ausstellung verlassen.
Allein zwischen Januar und Mitte April 1945 starben in Bergen-Belsen mindestens 35.000 Menschen, darunter auch die 15-jährige Anne Frank, die mit ihren Tagebüchern postum weltbekannt wurde. Weil die Kapazität des Krematoriums am Schluss nicht mehr ausreichte, lagen Tausende Leichen auf dem Lagergelände.
Schwer erträglich sind die Filme, die die Briten kurz nach der Befreiung von Bergen-Belsen drehten. Im Dokumentationszentrum sind sie hinter einem Vorhang im sogenannten Filmturm zu sehen; der Zutritt wird nur Besuchern im Alter über 14 Jahren empfohlen.
"Trotz allem empfinde ich keinen Hass", betont Yvonne Koch in ihren Gesprächen mit Jugendlichen. Ihre Botschaft ist die Mitmenschlichkeit. Dafür stehen das Paar Handschuhe und das Beispiel ihres unbekannten Retters. "Der hat mir mein Leben geschenkt, indem er mich aus der Baracke holte. Er hätte sich dabei ja auch selbst mit Typhus infizieren können."