domradio.de: Wenn man mit der A3 von Frankfurt Richtung Köln fährt, kommt irgendwann das Schild "Nordrhein-Westfalen". Hüpft da Ihr Herz, Frau Frier?
Annette Frier: Wenn ich das sehe, hüpft mein Herz selten, denn in dem Moment weiß ich, dass ich besser den Zug genommen hätte, anstatt auf der A3 im Stau zu stehen. Da sage ich stattdessen "Ah ja, willkommen im Stauland Nordrhein-Westfalen".
domradio.de: Sie sind 1974 in Köln geboren. Wie kann sich eine Kölnerin mit NRW identifizieren, wo doch Köln der Nabel der Welt ist?
Frier: Das haben Sie gesagt und jeder ordentliche Kölner wird das natürlich bestätigen. Nichtsdestotrotz ist Köln ein Teil von NRW, man mag es gar nicht glauben. Das ist so witzig, denn der Bayer sagt "ich bin ein Bayer" und der NRWler kommt aus Köln, aus Dortmund, aus Herford, aus Dülmen und wundert sich selber darüber, wie das passieren konnte, dass man ein Bundesland teilt. Aber das soll jeder für sich selber entscheiden, ob er Pott ist oder Ostwestfale oder Kölscher oder Ochener. Wenn einer sagt, ich komme aus NRW, dann geht das auch. Ich glaube, das ist alles erlaubt.
domradio.de: Was sagen Sie zu den 50er Jahren in NRW?
Frier: Ich erinnere mich an diese ganzen Kindheitsbilder meiner Eltern. Meine Mutter ist 1946, also genau vor 70 Jahren geboren und das Geburtsjahr Nordrhein-Westfalens ist somit auch das Geburtsjahr meiner Mutter. Ich selber habe natürlich keine Erinnerungen an die guten alten Fünfzigerjahre, aber das ganze Leben ist natürlich vollgestellt mit Erinnerungen aus dieser Zeit. Diese Charmeur-Kodachrome-Aufnahmen meiner Eltern in ihrem Sechziger- und Siebzigerjahre-Schick der Nachkriegsgeneration, als man wieder Geld hatte und sich wieder etwas leisten konnte. Die neue Vitrine im Wohnzimmer, die von allen Seiten fotografiert wurde, es fliegen einem natürlich Tausende von Erinnerungen durch den Kopf.
domradio.de: Ihr Vater ist in Köln aufgewachsen … Ihre Mutter kommt aus Bochum. Gibt es einen Unterschied zwischen dem Rheinländer und der Frau aus dem Ruhrpott?
Frier: Ja, das ist, als ob man Portugal und Schweden vergleicht, das ist das Verrückte. Das muss man erst mal unter einen Hut kriegen.
domradio.de: Sie sind in den Siebzigerjahren geboren. Wie war diese Zeit?
Frier: Bei uns zu Hause war es nicht besonders stürmisch. Da hatte sich gerade alles wieder eingependelt. Meine Eltern hatten in den Siebzigern das Haus gekauft und es war so richtig vorstädtisch, behütet bei uns zu Hause. Nichtsdestotrotz kann ich mich natürlich an die verschiedenen Krisen in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten erinnern und an die Gespräche meiner Eltern. Allein diese Bildungsreform in den Siebziger- und Achtzigerjahren, da habe ich viele Erinnerungen, das war für meine Mutter, die Gesamtschullehrerin war, ein großes Thema. Damals kam schon so langsam das Thema "Erneuerbare Energien" auf. Ich finde es lustig, wie lange man so ein Thema hat und bereits sagt, "jetzt sind wir in der Krise", um dann zehn Jahre später zu sagen, "jetzt ist die Krise angekommen", um weitere zehn Jahre später zu sagen "es wird nichts mehr, wie vorher sein, wir schlittern jetzt in eine Krise". Es ist schon erstaunlich, aber auch irgendwie beruhigend, dass es immer weiter geht.
domradio.de: Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren sehr politisch. Wie haben Sie die 90er Jahre erlebt?
Frier: Ja, in den Neunzigern, da war Politik sehr uninteressant, zumindest bei uns. Ich war damals 17, 18 Jahre alt, und Politik interessierte einen dann entweder ganz brennend oder wie bei uns damals fast nicht. Wir haben zu der Zeit ausschließlich Party-Gespräche geführt. Ich vermute, dass ich damit Stellvertreterin meiner Generation war. An diesen drei Mini-Dekaden sieht man bereits, dass das offensichtlich in Wellen geht. Die Sechziger waren sehr unpolitisch, Deckel darüber und nicht darüber reden, es ist nichts passiert. Dann Ende der Sechziger wird plötzlich alles infrage gestellt, was war. Mitte der Achtziger ebbt das dann wieder ab. Ich habe das Gefühl, dass man an der WDR-Dokumentation auch ganz schön sehen kann, dass das eine Wellenbewegung ist und auch, wie Politik gesellschaftlich eine Rolle spielt oder eben nicht.
domradio.de: 2005 war der Weltjugendtag in Köln. War das ein Highlight in 70 Jahren NRW?
Frier: Das stimmt, das war etwas, dieser Papstbesuch. Ich weiß noch genau, dass meine Mutter, die katholische Religionslehrerin ist, meinem Onkel erzählt hat, er könne morgen nicht zum Kaffee kommen, denn da käme der Papst. Es war damals nämlich per Losverfahren so, dass ein paar Lehrer aus Köln tatsächlich Papstbesuch bekamen. Meine Mutter hat da zwar nicht gewonnen, es ihrem Bruder aber so gut verkauft, dass er das wirklich geglaubt und gesagt hat, dann käme er auf jeden Fall. Es war dann so, dass der Papst mit einem Boot ungefähr 500 Meter an dem Haus meiner Mutter vorbeigefahren ist. Wir haben so gelacht, dass mein ebenfalls katholischer Onkel plötzlich so scharf auf diesen Kaffee war.
domradio.de: Die Stimmung während des Weltjugendtags war mitreißend. Wieviel haben Sie davon mitbekommen?
Frier: Ich war zu dem Zeitpunkt in München und habe dort gedreht und das nur ein bisschen von weitem mitbekommen. Das war wirklich etwas Besonderes, das hat man gemerkt. Ich glaube, es herrschte eine Verwunderung darüber, wie dieses Ereignis plötzlich die Leute ergriffen hat. Es war eine Verwunderung auch bei Menschen, die überhaupt nichts mit Religion am Hut haben. Daran erinnere ich mich sehr gut.
domradio.de: Papst Franziskus hat dieses Jahr das "Jahr der Barmherzigkeit" ausgerufen. Was verbinden Sie mit Barmherzigkeit?
Frier: Ja, das ist ein sehr aktuelles Thema. Ich würde sagen, das fällt natürlich unter den Oberbegriff Menschlichkeit. Ob Christ, Moslem, Buddhist oder Atheist - mit dem Wort sollten wir, glaube ich, alle viel anfangen können. Denn auf dieses ganze Elend, das wir jeden Tag im wahrsten Sinne des Wortes an die Küsten gespült bekommen - ich will mich jetzt hier nicht in Metaphern ergießen - darauf gibt es nur eine Antwort und die ist, glaube ich, Barmherzigkeit. Alles andere ist Tagespolitik. Wer da zynisch wird oder sagt, das interessiert mich nicht, das möchte ich gar nicht sehen, da habe ich nichts mit zu tun, der ist meiner Meinung nach auf dem Holzweg.
Das Interview führte Birgitt Schippers.