Sie ist klein und unscheinbar und befindet sich in vier Metern Höhe über den Domtüren. Die meisten Besucher gehen beim Betreten des Münsteraner Doms wohl unter ihr hindurch, ohne sie zu beachten. Doch die etwa 70 Zentimeter hohe Mariendarstellung im Paradies, dem Eingangsportal der Kathedrale, erregt jetzt die Gemüter.
Jüdische Figur von Maria zu Boden gedrückt
Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und sie ist anti-jüdisch – und damit ein Kind ihrer Zeit. Die Gottesmutter Maria ist hier auf einem Thron sitzend dargestellt - dem "Thron der Weisheit", wie Domkustos Udo Grote erläutert. Auf den Knien hält sie das Jesuskind. Die Figuren daneben sind die Heiligen Drei Könige und stehen stellvertretend für die Menschheit.
Am unteren Rand des Reliefs, noch kleiner und schon ein wenig verwittert, sind zwei Figuren zu erkennen. Die eine steht für die Heiden. Ihr stellt Maria den Fuß in den Nacken. Die andere steht für das Judentum. Sie wird von der Gottesmutter am Kopf zu Boden gedrückt, ihre Gliedmaßen sind verrenkt.
Antisemitische Statuen als Kinder der Zeit
Judenfeindliche Darstellung aus jener Zeit sind an vielen Kirchen anzutreffen. Zuletzt hatte ein "Judensau"-Steinrelief an der Außenseite der Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg für Aufsehen gesorgt. Auch in Münster gab es Beispiele, wie Grote erläutert. So etwa eine Synagogen-Darstellung an der Stadtkirche Sankt Lamberti.
Bei der Marienfigur im Dom aber handele es sich um eine "besonders brutale" Darstellung, sagt der Domkustos. Sie sei deutschlandweit nach seiner Kenntnis einmalig.
Ein Kind ihrer Zeit sei die Skulptur - wie auch ihr unbekannter Erschaffer -, weil in ihr die damalige Auffassung zum Ausdruck komme, wonach Judentum und Heidentum durch das Christentum überwunden und ersetzt wurden, sagt Münsters Dompropst Kurt Schulte. Heute sei dies nicht nur unverständlich, sondern der Kirche auch zuwider und theologisch unhaltbar. Sie widerspreche fundamental der Grundüberzeugung der katholischen Kirche.
Juden – "bevorzugte Brüder" der Christen
Schulte verweist auf die Konzilserklärung "Nostra aetate" vor mehr als 50 Jahren, mit der die Kirche einen Prozess der Selbstprüfung eröffnete, der dazu führte, dass die kirchliche Lehre von jeder Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt wurde. 1986 hatte Papst Johannes Paul II. beim Besuch einer Synagoge in Rom erklärt, die Juden seien die "bevorzugten Brüder" der Christen, gewissermaßen ihre "älteren Brüder".
Heute in Zeiten eines wieder aufkommenden Antisemitismus stellt die Kirche sich solidarisch vor die Juden. Erst vor Ostern hatte Münsters Bischof Felix Genn zur Wachsamkeit aufgerufen. "Wenn es in unserem Land auch nur die geringsten Anzeichen von Judenhass und Antisemitismus gibt, dann kann die Antwort, die wir als Christinnen und Christen geben, nur heißen: Nulltoleranz", so der Bischof. Vor dem Hintergrund habe sich das Domkapitel verpflichtet gefühlt, mit der Distanzierung von der Skulptur auch ein Zeichen zu setzen, so Schulte.
"Wenn man es entdeckt hat, dann stört es"
Zusammen mit der Gesellschaft für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit und der Jüdischen Gemeinde in Münster wurde jetzt ein vierseitiges Kunstblatt entwickelt. In ihm werden die Figur und ihre Geschichte vorgestellt und das heutige Verhältnis von Christentum und Judentum verdeutlicht. In allen weiteren Publikationen zum Dom soll ähnliches geschehen. Zudem sollen sich Besucher künftig über einen QR-Code an der Figur via Smartphone informieren können.
Er sei wohl 50 Jahre lang in den Dom gegangen, ohne das Relief zu sehen, bekennt Domkapitular Ferdinand Schumacher, der auch Vorsitzender Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist.
"Wenn man es entdeckt hat, dann stört es, dann weiß man es und dann wird es unerträglich." Die Figur zu entfernen, sei ebenso nicht in Betracht gezogen worden wie ein Übergehen oder Verschweigen. Für das Gemeinwesen unter den Religionen in Münster sei eine ernsthafte Distanzierung absolut notwendig.
Marienfigur trägt zur Aufklärung bei
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Sharon Fehr, ist derselben Ansicht. Es genüge nicht, sich regelmäßig auszutauschen und zu treffen, wenn solchen Darstellungen wie im Dom nicht widersprochen werde. Die anti-jüdische Bilddarstellung sei "auch heute noch verletzend". So trägt in Münster jetzt eine kleine, bislang unentdeckte Marienfigur im Dom zu religiöser Aufklärung und menschlicher Weitsicht bei.
Die dort dargestellte theologische Auffassung, wonach das Judentum zu missachten oder zu unterdrücken ist, sei nicht richtig und widerspreche fundamental der Grundüberzeugung der katholischen Kirche, sagte Dompropst Kurt Schulte am Donnerstag vor Journalisten in Münster. Sie dürfe deshalb nicht unkommentiert bleiben.
Johannes Schönwälder