KNA: Herr Klein, wie sieht Ihre Bilanz nach einem Jahr aus?
Felix Klein (Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung): Erst einmal musste ich Strukturen schaffen: So habe ich etwa - neben dem Aufbau eines Referats im Innenministerium - angeregt, dass jede Bundestagsfraktion einen Berichterstatter zum Thema benennt. Der Kampf gegen Antisemitismus soll ja nicht nur ein Unterkapitel der Innenpolitik sein. Ich bin dafür da, unsere Gesellschaft von Antisemitismus zu befreien. Dabei bin ich nicht nur der Anwalt der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land, sondern unserer gesamten Gesellschaft.
KNA: Sie haben auch angeregt, dass es eigene Beauftragte in den Bundesländern gibt.
Klein: Mit Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, die jetzt neu hinzukommen, sind wir zwölf - da werden sich auch die anderen nicht entziehen. Es ist effizienter, wenn ich einen Hauptansprechpartner habe, weil es auch in den Bundesländern ein ressortübergreifendes Thema ist und etwa innere Sicherheit oder Bildung betrifft. Wir wollen unser Vorgehen dann in der neu eingerichteten Bund-Länder-Kommission besprechen, die auch Beschlüsse fassen kann.
KNA: Mit RIAS haben Sie eine bundesweite Meldestelle für antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze eingeführt.
Klein: Damit möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Antisemitismus nicht nur ein Randproblem ist, das Juden betrifft, sondern ein weit verbreitetes Phänomen, das uns alle angeht. Die Meldestelle sehe ich als wichtiges Instrument, die Betroffenen zu stärken, ihre Rechte wahrzunehmen und auch, die Täter unter Druck zu setzen. Antisemitismus ist kein Kavaliersdelikt. Wenn wir da Erfolge haben, glaube ich, dass wir auch andere Gruppen ermutigen können, Muslime, die beleidigt werden oder Frauen.
KNA: Wie groß ist aktuell das Problem Antisemitismus hierzulande?
Klein: Die Lage ist besorgniserregend, was die Straftaten anbelangt, jedenfalls im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Wir liegen aktuell bei etwa 1.500 Straftaten pro Jahr, in Frankreich etwa sind es unter 500 - auch wenn man sagen muss, dass unsere Statistik anders gemessen wird.
KNA: Ist dies mit der Einwanderung von muslimischen Flüchtlingen erklärbar?
Klein: Nein, die Straftaten sind über 90 Prozent dem rechten Umfeld zuzurechnen, etwa 5 Prozent kommen aus der muslimischen Ecke, die restlichen 5 Prozent entfallen auf linke und sonstige Kategorien. Allerdings ist die - oftmals israelbezogene - antisemitische Einstellung bei muslimischen Zuwanderern verbreiteter als bei der Bevölkerung allgemein.
KNA: Wie kann man dem entgegenwirken?
Klein: Indem wir klarmachen, dass judenfeindliche Sprüche in Deutschland nicht akzeptiert werden und man dafür strafrechtlich verfolgt werden kann. Als Gradmesser für eine gelungene Integration sehe ich hier die Kenntnis der deutschen Geschichte, die wir vermitteln müssen. Und wir müssen auch die Moscheegemeinden- und verbände stärker einbinden. Muslimische Flüchtlinge sind anders sozialisiert, insbesondere in arabischen Ländern, die teilweise noch offiziell im Kriegszustand mit Israel sind.
KNA: Wann ist Kritik an Israel antisemitisch?
Klein: Man kann den Umgang der Israelis mit den Palästinensern kritisieren, aber es ist nicht in Ordnung, wenn im gleichen Atemzug das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird. Oder deutsche Juden dafür verantwortlich gemacht werden, was die israelische Regierung tut. Auch die BDS-Bewegung, die zu Boykott, Deinvestitionen und Sanktionen gegen Israel aufruft, halte ich für antisemitisch.
KNA: Auch an Schulen gibt es Antisemitismus, "Du Jude" wird etwa als Schimpfwort benutzt.
Klein: Das ist Teil der eingetretenen Verrohung unserer Gesellschaft. Die Lust von Jugendlichen an Provokationen, die es natürlich schon immer gab, spielt auch eine Rolle. "Du bist behindert" wurde etwa auch zu meiner Schulzeit schon gesagt. Aber "Du Jude!" gab es nicht. Da sieht man eine Diskursverschiebung. Sinnvoll finde ich deshalb, dass man eine Meldepflicht für die Schulen einführt, wie etwa in Berlin.
KNA: Warum?
Klein: Weil die Schule dann eine Pflicht hat, solche Vorfälle aufzuarbeiten und eine Diskussion, ob man so etwas überhaupt thematisieren muss - weil es ja den guten Ruf der Schule gefährden könnte - gar nicht erst entsteht. Grundsätzlich ist entsprechender Unterricht wichtig, nicht nur zum Holocaust, zum Judentum ganz allgemein: Es gibt leider eine seltsame Hemmung zu religiöser Bildung. Dabei entsteht Antisemitismus aus Unkenntnis.
KNA: Sind Sie zufrieden mit den Kirchen und ihrem Einsatz gegen Antisemitismus?
Klein: Die evangelische und die katholische Kirche haben nach 1945 viele wegweisende gute Beschlüsse gefasst. Aber es gibt Einzelfälle, die die Kirchen entschlossen angehen müssen: So gibt es etwa in München-Bogenhausen eine katholische Kirche aus den 60ern, die nach Johann von Capistran benannt ist. Dieser ließ im 15. Jahrhundert Juden foltern, verbrennen und zwangstaufen. Diese Kirche sollte umbenannt werden, obwohl das nach dem Kirchenrecht wohl nicht so einfach ist. Ich habe gehört, dass Kardinal Marx sich um den Fall kümmern will und werde mich demnächst nach den Ergebnissen seiner Bemühungen erkundigen.
KNA: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Antisemitismus sich wieder mehr verbreitet?
Klein: Gleichgesinnte finden sich durch das Internet schneller. Und es gibt offenbar Abstumpfungserscheinungen hinsichtlich der Erinnerung an den Holocaust, vielleicht auch, weil kaum noch Zeitzeugen leben. Der Kompass der Gesellschaft verschiebt sich in eine problematische Richtung. Wenn der AfD-Fraktionsvorsitzende Gauland sich über die NS-Zeit als Vogelschiss in der Geschichte äußert, lädt das ein zu Holocaust relativierenden Bemerkungen am Stammtisch.
KNA: Wie antisemitisch ist aus Ihrer Sicht die AfD?
Klein: Sie duldet antisemitische Rhetorik auch führender Vertreter ihrer Partei. Außerdem vertritt sie problematische Positionen, was das Judentum angeht: So setzt sie sich dafür ein, dass man rituelles Schächten und Beschneidung verbieten soll. Gerade letztere ist aber Grundlage für jedes jüdische Leben in Deutschland.
KNA: Was soll im Kampf gegen Antisemitismus getan werden, wenn Deutschland 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehat?
Klein: Aus meiner Sicht sollte das eine unserer Prioritäten werden. Das Mandat der EU-Koordinatorin gegen Antisemitismus sollte gestärkt und die Mitgliedstaaten ermuntert werden, ebenfalls Antisemitismusbeauftragte zu berufen.
KNA: Welche Herausforderungen gibt es im nächsten Jahr?
Klein: 2020/21 wollen wir ein Jubiläum feiern - 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das belegt ein Edikt des Kaisers Konstantin aus dem Jahre 321, das sich auf die jüdische Gemeinde in Köln bezieht. Dies nehmen wir zum Anlass, eine Reihe von Veranstaltungen anzubieten. Es soll etwa einen Staatsakt in Köln geben, eventuell auch eine Sonderbriefmarke zu diesem Jubiläum.