DOMRADIO.DE: Wenn man einmal die Gegenposition einnimmt: Es gibt genug Politiker, die sagen man müsse die Grenzen dicht machen und klarmachen, dass nicht jeder, der bei uns in Deutschland leben will, bei uns leben kann. Das sind doch alles berechtigte Argumente, oder?
Cornelia Füllkrug-Weitzel (Präsidentin von "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe): "Wir können ja nicht die ganze Welt aufnehmen." "Es können ja nicht alle zu uns kommen." Das sind Argumente, die von der Wahrheit ziemlich weit entfernt sind. Gegenwärtig haben wir 68,5 Millionen Menschen, die vertrieben oder auf der Flucht sind. Davon können Sie schon mal 40 Millionen streichen, denn das sind reine Binnenvertriebene, die in ihrem eigenen Land leben. Ansonsten leben 85 Prozent aller Flüchtlinge in Ländern des Südens, in Entwicklungsländern. Nach Europa kommen weit weniger als zehn Prozent. Das ist das eine Faktum, was man vielleicht aufbieten sollte, um Ängste zu zerstreuen.
Der zweite Punkt: Es gibt international geregelte und von den EU-Mitgliedsstaaten unterschriebene Menschenrechtskonventionen, die unter anderem das Recht auf Asyl vorsehen. Dieses Recht muss gewährleistet werden. Es sei denn, man sagt, auf dem Altar von Wahlkämpfen opfern wir jetzt Recht um Recht, untergraben unseren eigenen Rechtsstaat und wundern uns hinterher, dass es in Europa überall aussieht wie in Ungarn oder in der Türkei.
Das heißt, wo ist eigentlich eine Grenze? Um das Recht auf Asyl geltend machen zu können, muss man den Menschen die Gelegenheit geben, einen Antrag zu stellen, zu beraten, wie man das macht und wer das Recht auf Asyl oder auf subsidiären Schutz hat.
Das kann man natürlich nicht, wenn man als Hauptmittel den Schutz der Außengrenzen wählt. So wie die gegenwärtige Debatte geführt wird, denke ich, wird es aber darauf hinauslaufen. Und der Schutz der Außengrenzen beinhaltet, die Menschen ins Meer zu drängen, in die nordafrikanischen Länder zu drängen, so dass sie erst mal gar nicht hier zu sehen sind. Aber damit ist das Problem nicht gelöst und ein fundamentales Recht zerstört.
Ich glaube nicht, dass die EU gut beraten ist, ihre gesamten Werte zu untergraben und zu zerstören. Und zu diesen Werten gehören nun mal Menschenrechte, Demokratie, Solidarität, Humanität. Das muss man nicht alles über den Haufen schmeißen, nur weil man nicht in der Lage ist, eine solidarische Lösung innerhalb Europas zu finden.
DOMRADIO.DE: Als Argument wird hier immer wieder angebracht, dass man weiter vorne ansetzen muss, dass man die Fluchtursachen bekämpfen muss, in Afrika oder auch in Bürgerkriegsländern wie Syrien. Sie sind selber in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv. Wie schätzen Sie das ein, gibt es da im Moment schon Ansätze, die was bringen?
Füllkrug-Weitzel: Die Fluchtursachen zu bekämpfen, hat mehrere Dimensionen. Das eine ist tatsächlich, die Ursachen von Armut, von Hunger, von Krieg und von Klimawandel zu bekämpfen. Das kann man tun, indem man gute und nachhaltige Entwicklungsprogramme und -projekte auflegt und in den Ländern, in denen diese Probleme am dringlichsten auftauchen, versucht, Unterstützung zu bieten.
Europa hat aber noch eine ganz andere Verantwortung. Man kann nicht sagen, wir nehmen uns die schöne Seite der Globalisierung und wollen davon profitieren, und alles Negative verdrängen wir nach außen. Die Abfälle, die wir nicht mehr brauchen, die Negativwirkungen des Klimawandels oder die Verlierer von nicht fairen Verträngen – das alles nach außen zu drängen und dann zu sagen: "Bei euch geht es immer schlechter. Warum entwickelt ihr euch denn nicht? Da müssen wir euch mal die Entwicklungshilfe streichen" – macht überhaupt keinen Sinn.
Das heißt, Europa muss sich eigentlich massiv dafür engagieren, dass die Fluchtursachen langfristig bekämpft werden. Auch indem Europa seine eigenen außenpolitischen Handlungsfelder wie den Handel, die Außenwirtschaftbeziehungen und die nach außen wirkenden Felder wie Energie und Klimaschutz systematisch daraufhin untersucht, ob es negative Auswirkungen auf die Lebenssituation und Lebenschancen von Menschen im Süden hat. Das wäre eine wirklich langfristige und sinnvolle Fluchtursachenbekämpfung.
Fluchtursachen bekämpfen ist nicht, Menschen ins Meer zurückzutreiben und dann zu sagen, das war Fluchtursachenbekämpfung, oder Lager in Nordafrika zu eröffnen und mit diktatorischen Regimen zu kooperieren, damit sie die Flüchtlinge zurückhalten. Wissend, dass man auf diese Weise sich selber von Diktatoren abhängig macht und auf Dauer neue Fluchtursachen schafft, indem man Menschenrechtsverletzungen systematisch unterstützen.
DOMRADIO.DE: Jetzt kommen am Donnerstag die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen. Insbesondere die Länder Osteuropas, aber auch Italien, sind dafür, die Grenzen stärker zu sichern. Deutschland und Frankreich stehen auf der anderen Seite und wollen die Grenzen eher offen halten. Wie kommt man da zusammen? Sehen Sie da irgendeinen Ausweg aus der Situation oder eine Einigungsmöglichkeit?
Füllkrug-Weitzel: Der einzige Ausweg ist, dass man den Geburtsfehler von Dublin II aufhebt. Dublin II legt alle Verantwortung auf die Länder an den Außengrenzen. Deutschland war hier übrigens führend dabei, dass dieser Konsens so getroffen wurde und dass die Aufgaben nicht fair verteilt werden. Es gibt nur eine einzige Lösung: Faire Verteilungsmechanismen von Flüchtlingen in Europa schaffen und dafür sorgen, dass die Bearbeitung von Asylanträgen zügig, professionell und menschenrechtskonform funktioniert.
In Griechenland hat sich die Regierung als unfähig erwiesen und ist auch nicht angemessen von der EU unterstützt worden, um den Menschen eine Chance zu geben, dort ihre Anträge sinnvoll zu stellen und die Verfahren zügig zu bearbeiten. Da bekommt man Zweifel, ob das überhaupt gewünscht ist. Aber das ist der Weg. Der Weg ist professionelles, menschenrechtskonformes Handling und faire Verteilung in Europa. Beides ist noch nicht versucht worden. Beides wäre eine gute Lösung.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.