domradio.de: Sie machen schon seit längerem auf das Phänomen der "Working Poor" aufmerksam - also der "arbeitenden Armen". Was genau verstehen Sie darunter?
Christoph Butterwegge (Armutsforscher und Politikwissenschaftler): Ja, der breite Niedriglohnsektor ist für mich das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs- und spätere Altersarmut. Der Niedriglohnsektor umfasst fast ein Viertel aller Beschäftigten. Unter "Working Poor" sind diejenigen zu verstehen, die darin arbeiten. Die verdienen so wenig, dass sie trotz Vollzeiterwerbstätigkeit in den Armutsbereich hineinfallen.
domradio.de: Was ist denn Altersarmut?
Butterwegge: Entsprechend einer Konvention der Europäischen Union definiert man Armut so, dass man sagt, arm ist, wer weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat.
domradio.de: Das ist wie viel?
Butterwegge: Das sind für einen Alleinstehenden gegenwärtig 969 Euro im Monat. Es gibt durchaus Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind und so wenig verdienen oder aber nur etwas mehr. Da würde ich auch sagen: Das ist immer noch Armut, wenn man in Köln oder Düsseldorf 1.100 Euro verdient und davon eine Wohnung mieten muss, ist man meines Erachtens auch einkommensarm.
domradio.de: Diese Leute arbeiten dann quasi Tag und Nacht, haben zum Teil auch mehrere Jobs und können sich am Ende noch nicht einmal einen Kinobesuch leisten. Das ist wirklich deprimierend. Trotzdem hört man oft: Wer in Deutschland arm ist, der ist doch selber Schuld. Wie erklären Sie sich dieses Missverhältnis?
Butterwegge: Das ist leider in einer so reichen Gesellschaft, wie unserer so, dass Armut entsolidarisierend wirkt. Armut wird benutzt, um Menschen zu stigmatisieren, manchmal auch zu kriminalisieren.
domradio.de: Wie das?
Butterwegge: Wer zum Beispiel in einem Slum in Nairobi lebt, der muss sich nirgendwo rechtfertigen, dass er arm ist. Man wird ihn nicht dafür selbstverantwortlich machen. Sondern da sind eben alle anderen auch arm. Es ist gewissermaßen Normalität. Wir leben in einem so reichen Land, bei dem es dann auch weniger um absolute Extreme existentielle Armut geht, sondern mehr um relative, also um eine Armut im Wohlstand.
domradio.de: Wie ist das bei uns in einem doch eher reichen Land?
Butterwegge: Bei uns ist es so, dass diejenigen, die nicht von Armut betroffen sind, ein bisschen Druck ausüben und sagen, naja, wer bei uns nicht über die Runden kommt, der ist faul, der ist ein Drückeberger, der ist ein Sozialschmarotzer, der will eben nicht arbeiten und nichts leisten und wir erheben uns dann darüber. Diejenigen, die das tun, die fühlen sich dann besser. Das ist natürlich eine Form der sozialen Ausgrenzung. Deswegen ist bei uns, in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik, Armut auch gleichbedeutend mit sozialer Ausgrenzung.
domradio.de: Schauen wir auf die Gründe. Seit 2015 haben wir in Deutschland den Mindestlohn. Hat der denn so wenig gebracht?
Butterwegge: Erstmal war das ein historischer Fortschritt, überhaupt so einen Mindestlohn einzuführen. Den gibt es natürlich in vielen anderen Ländern schon lange. Aber, dass das jetzt auch in der Bundesrepublik Deutschland am ersten Januar 2015 Gesetz wurde, muss man auch der großen Koalition positiv anrechnen.
domradio.de: Aber es gibt ja auch viel Kritik…
Butterwegge: Man muss auch sagen, dieses Problem über das wir jetzt sprechen, hat er natürlich nicht gelöst und auch nicht lösen können – aus zwei Gründen: Erstens war er zu niedrig. 8,50 Euro in der Stunde, heute 8,84 Euro reichen nicht aus, wenn man Vollzeit arbeitet, um aus der Armutszone herauszukommen.
Dieser Mindestlohn reicht erst recht nicht aus, um aus dem Problem der Altersarmut herauszukommen und sich davon zu befreien oder erst gar nicht hineinzugeraten. Wenn man vierzig Jahre arbeitet zu Mindestlohn, vollzeittätig ist, dann wird man am Ende auf die staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen sein. Dann hat man das Problem, dass man keinen Lohn für Lebensleistung erhält und dass man seinen Lebensstandard, der ohnehin niedrig war, im Alter noch nicht einmal halten kann.
domradio.de: Also ist der Mindestlohn ein Problem?
Butterwegge: Die Höhe des Mindestlohns ist ein Problem, aber auch die vielen Ausnahmen, die es gibt. Für Langzeitarbeitslose gilt das erste halbe Jahr nicht, für unter 18-jährige ohne Berufsabschluss gilt er nicht. Für Kurzzeitpraktikanten, für Saisonarbeiter, für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller gab es Übergangsvorschriften. Das sind alles Ausnahmen, die natürlich den Mindestlohn zu einem zahnlosen Tiger gemacht haben.
domradio.de: In Berlin laufen gerade die Sondierungsgespräche für die mögliche Jamaika-Koalition. Was wäre denn der dringlichste Schritt? Wo könnte der Gesetzgeber die Hebel ansetzen?
Butterwegge: Der Mindestlohn wäre so ein Thema. Jetzt hat Olaf Scholz in einem Interview gerade 12 Euro pro Stunde in absehbarer Zeit für durchaus realistisch erklärt. Aber man fragt sich natürlich dann, warum die SPD, das nicht etwa im Wahlkampf vertreten hat. Um Armut wirksam zu bekämpfen, wäre das natürlich eine sehr wirksame Maßnahme. Es müssen auch gar nicht 12 Euro sein. Ich wäre schon froh, wenn er 10 Euro betragen würde.
domradio.de: Gibt es in anderen Ländern Beispiele?
Butterwegge: In den USA gibt es so eine Gewerkschaftskampagne, die heißt "Fighting for Fifteen", also den Mindestlohn in den USA auf 15 Dollar heraufzusetzen. Burnie Sandes unterstützt diese Initiative. Wenn wir sagen würden, es ist Zeit für 10 Euro, das wäre ein ganz wichtiger Ansatzpunkt.
domradio.de: Was wäre wichtig für die neue Regierungsbildung?
Butterwegge: Es gäbe aber auch noch andere wichtige Punkte für die Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen. Ich finde zum Beispiel, den Soli abzuschaffen eine Katastrophe, weil der Solidaritätszuschlag noch halbwegs ein Instrument ist, um die Kluft zwischen Arm und Reich nicht breiter werden zu lassen. Er belastet nicht nur die stärkeren Einkommen mehr, sondern er wird auch auf die Körperschafts- und Kapitalertragssteuer erhoben. Das heißt, er trifft wirklich die ganz Reichen. Die Parteien, die dort sondieren, tun aber so, als würde man die unteren und mittleren Einkommen entlasten, wenn man den Solidaritätszuschlag abschafft. In Wirklichkeit müssen die ihn gar nicht bezahlen.
domradio.de: Das heißt für eine Familie zum Beispiel was?
Butterwegge: Eine Familie mit zwei Kindern, also eine vierköpfige Familie, muss ihn erst zahlen, wenn das Einkommen im Monat über 4.050 Euro liegt und das tun die allermeisten Einkommen nicht. Das heißt, es wäre ein wichtiger Schritt, den Solidaritätszuschlag nicht abzuschaffen, sondern umzuwidmen und einzusetzen zur Bekämpfung der Kinderarmut.
Das Interview führte Hilde Regeniter.