Der britische Historiker John Dickie sammelt seit der Amtseinführung von Papst Franziskus im Jahr 2013 Informationen zur Aufarbeitung der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Nun zieht er eine eher ernüchternde Bilanz. Er zeigt an Beispielen aus mehreren Ländern, dass die von Franziskus angekündigte Umsetzung der Null-Toleranz-Politik in Sachen Pädophilie oft nur schleppend vorangeht.
Papst verglich Kindesmissbrauch mit "schwarzer Messe"
In der Dokumentation "Hinter dem Altar. Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche" lassen Dickie und der Regisseur Jesus Garces Lambert Täter und Opfer zu Wort kommen. Und sie fragen nach den Gründen für die weiter häufig anhaltende Tendenz zur Vertuschung. ARTE strahlt die Dokumentation am 20. Februar um 20.15 Uhr aus.
Autor John Dickie, Geschichtsprofessor am University College London, der auch das Buch "Omerta: die ganze Geschichte der Mafia - Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta" schrieb, macht besonders auf die Gesetzeslage in Italien aufmerksam. Änderungen durchzusetzen sei dort extrem schwierig.
In keinem anderen Land seien katholische Kirche, Politik, Geschäftswelt und Mafia traditionell so verflochten wie in Italien. Dennoch habe Franziskus den Kindesmissbrauch auf das Schärfste verurteilt, so Dickie. Der Papst habe ausdrücklich betont, dass Priester, die solche Verbrechen begingen, "den Körper des Herrn verrieten" und eine "Schwarze Messe" feierten.
Erst mit Papst Benedikt XVI. kam Aufarbeitung
Der Autor erkundete auch die Haltung der Bischöfe zur Null-Toleranz-Politik des Vatikan in Ländern wie Frankreich, den USA und Argentinien, dem Herkunftsland von Papst Franziskus. Er zeigt, dass die Entscheidung, wie damit umzugehen sei, bei den Bischöfen liegt.
Doch in Italien habe sich nur wenig geändert, berichtet Dickie weiter, der als Präsentator durch die Sendung führt. Domenico Sigalini beispielsweise, emeritierter Bischof von Palestrina in der Nähe von Rom, könne noch immer offen erklären, dass er es nicht für seine Aufgabe halte, Kindesmissbrauch durch einen Priester bei der Polizei anzuzeigen.
Der Historiker blickt zurück auf die Amtszeiten der letzten Päpste. Er trifft Experten und fragt, ob der Kindesmissbrauch eventuell tiefer im System der Kirche verwurzelt ist, als zu befürchten war. Kritische Äußerungen im Film kommen überwiegend von den befragten Journalisten.
Lucetta Scaraffia vom "Osservatore Romano" beispielsweise erinnert daran, dass noch Papst Johannes Paul II. es abgelehnt habe, sich näher mit dem Kindesmissbrauch zu befassen und darin eine Diffamierung der Kirche gesehen habe. Erst Papst Benedikt XVI., so die Recherchen des Autors, habe gefordert, pädophile Priester vom Amt auszuschließen.
Opfern wurde meist nicht geglaubt
Die erschütterndsten Kapitel der Dokumentation sind jedoch die Interviews mit den Opfern. Für alle waren die Priester Respektspersonen, die vermeintlich nicht Falsches tun konnten. Wenn die Opfer es dennoch wagten, ihren Eltern von den sexuellen Übergriffen zu erzählen, wurde ihnen meist nicht geglaubt.
Besonders tragisch ist ein Fall aus der Nähe von Rom, wo ein Priester über viele Jahre ungehindert gehörlose Schüler missbrauchen konnte. Mary Collins, ehemaliges Mitglied der päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen, erzählt ebenfalls, dass sie als Kind im Krankenhaus von einem Priester missbraucht wurde. Sie trat inzwischen aus der Kommission aus, weil sich nach ihrer Meinung nichts geändert hat.
Die katholische Kirche sei gefährdet, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen, bilanziert der Autor abschließend. Für Papst Franziskus werde es Zeit, die Vertuschung endgültig zu beenden und die Archive zu öffnen. Transparenz habe zwar einen hohen Preis, sei aber der einzige Weg, die Kinder in Zukunft zu schützen.
Insgesamt legen die Macher eine sachlich angelegte und faktenreiche Dokumentation vor. Vor allem die Passagen mit den Opfern gehen unter die Haut. Ihnen fällt es noch immer sichtlich schwer, ihre Geschichte öffentlich zu machen.
Heide-Marie Göbbel