DOMRADIO.DE: Wir haben in Köln neun Traditionskorps und alle sagen einen Großteil ihrer Karnevalssitzungen in Innenräumen ab, das ist mittlerweile klar. Was bedeutet das alles für die Seele des Kölner Karnevals?
Wolfgang Oelsner (Karnevalsexperte und Psychotherapeut): Das ist richtig traurig und schade. Aber wir wissen ja auch gerade aus der Psychologie, Trauerarbeit zu leisten ist die beste Chance, die Krise zu bewältigen. Kann das der Karneval überstehen? Ja, klar, natürlich. Da gab es ganz andere Krisen. Aber für die jetzige Zeit und für die jetzigen Vertreter ist das einfach sehr, sehr schade. Es fehlt etwas.
Den Traditionskorps fehlt zum Beispiel ihr Korps-Appell. Man hat die Uniform aus dem Schrank geholt, hat geguckt, ob die Hose noch passt, hat geguckt, ob die Motten nicht dran gegangen sind und so weiter. Das fehlt.
DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihnen persönlich damit?
Oelsner: Mir fehlt jetzt in diesem grauen, usseligen, nasskalten Straßenbild dieser Farbtupfer. Ein treuer Husar steht am Straßenrand und wird für einen Auftritt abgeholt. Wenn man in der Straßenbahn die ersten mit einem Schal, einem dezenten Kostüm oder Accessoire findet. Dieser Farbtupfer ist jetzt im Moment leider nicht da.
DOMRADIO.DE: Dabei fallen ja auch viele gesellschaftliche Rituale flach. Die Prinzenproklamation zum Beispiel in diesen Tagen. Was hat das für Konsequenzen?
Oelsner: Es könnte die Konsequenz haben, dass die Strukturen zusammenbrechen. Und damit das nicht geschieht, ist es gut, dass es stattfindet, wenn auch in einem sehr merkwürdigen, mitunter skurril anmutenden Ambiente ohne Publikum. Das kann man sich kaum vorstellen. Aber es werden ja einige aus den Gesellschaften als Mitwirkende im Umfeld sein. So ganz mutterseelenallein wird das Dreigestirn dort nicht sein.
Wichtig ist aber, dass diese Struktur erhalten bleibt, dass diese Formen gewahrt werden. Einfach gesagt: Es ist wichtig, dass nicht nichts passiert. Köln hat ein Dreigestirn. Man erlebt es anders als sonst in der Session, aber es ist da. Es ist etwas da, was den Karneval repräsentiert. Die Proklamation Anfang Januar ist in Köln der eigentliche Start hier ins neue Jahr. Und das ist schade, wenn das nicht stattfinden kann. Aber das ist kein Trauma, das ist einfach nur ein großer Frust.
DOMRADIO.DE: Was heißt das fürs Dreigestirn? Man kann sich vorstellen, wie enttäuschend das für die drei sein muss.
Oelsner: Oh ja, zumal - und das kann man den drei nicht hoch genug anrechnen - sie im letzten Jahr ja wussten, dass sie sich auf eine ganz komische Session würden einstellen müssen. Das ist schon ein anderes Gefühl, wenn sie auf einem Lastwagen vor einem Altenheim stehen und dann durch die Fensterscheiben gucken. Das hat eine ganz andere Qualität als ein warmer, schön dekorierter Saal.
Das war denen bekannt, aber sie haben sich dem gestellt. Sie haben auch da gesagt: Es ist wichtig, dass es nicht nichts gibt, gerade bei den sozialen Einrichtungen, bei den karitativen Veranstaltungen. Natürlich schwebte im Hinterkopf immer die Hoffnung mit: Im nächsten Jahr ist alles anders. Und es zeugt in meinen Augen von Charakter, dass sie jetzt, nachdem es ja schon seit geraumer Zeit absehbar ist, dass auch in diesem Jahr es eine andere, völlig andere Session geben wird, sie sich dem wieder stellen. Wer da rein menschlich reagiert, mit "Habe ich keine Lust", den könnte man verstehen. Da hält man wirklich die Brauchtums-Fahne aufrecht und steht zu seiner Tradition, zu seinem Fest und auch zu dieser Bevölkerung.
DOMRADIO.DE: Braucht es vielleicht sogar eine dritte Amtszeit für das aktuelle Dreigestirn?
Oelsner: Das kann man jetzt schwer sagen. Verdient hätten die Aktuellen es allemal, wenn sie es überhaupt wollten, einmal den Zug richtig zu erleben. Andererseits: Sie haben so viel Demut, dass sie sagen: Wir haben das so entschieden. Und das ist jetzt eben so. Wir gestalten dieses Jahr so, wie es ist. Wir müssen uns keinen Kopf zerbrechen, dass wir im nächsten Jahr nicht ein würdiges Dreigestirn haben. So oder so werden wir eins bekommen.
DOMRADIO.DE: Der klassische Rosenmontagszug wird auch nicht stattfinden. Vor der Pandemie hatten wir das schon mal zum Golfkrieg 1991. Bei so schrecklichen Nachrichten könne man nicht feiern. Was ist der Unterschied zur aktuellen Situation?
Oelsner: Man kann daran gut ablesen, welche erfreuliche Entwicklung der Karneval in den letzten gut 30 Jahren gemacht hat. Damals polarisierte das ja ungemein. Da wurde das Dreigestirn, das es ja gab und noch zu Beginn der Session auf den Sitzungen auftreten wollte, zum Teil übel angefeindet, auch von außen. Wie kann man so was machen? Das passt jetzt nicht. Da hat man jetzt doch das Gefühl, es gibt einen Schulterschluss in der Gesellschaft. Man ist besser auf solche Situationen vorbereitet. Auch dieses Polarisieren zwischen den Alternativen damals. Die Stunksitzung kam da gerade auf.
Ich glaube, dass in dem letztjährigen Lied von Brings ganz gut das zum Ausdruck kam, was inzwischen möglich ist. Karneval ist nicht nur Remmidemmi, deshalb singen wir "Alaaf auch jetzt ein bisschen stiller" und das macht viel aus. Die Menschen haben begriffen: Auch dieses leise Alaaf ist Bestandteil des Karnevals. Das kann man jetzt abrufen. Der Karneval ist nicht hilflos in solchen Zeiten und das ist eine Kraft. Ich glaube, die können wir ein Stückchen auch nutzen. Gerade in solchen Krisenzeiten.
DOMRADIO.DE: Beim Zugausfall 1991 ist die Idee des Geisterzuges entstanden. Ob wir uns auch aus dieser Krise neue Ideen mitnehmen?
Oelsner: Ich weiß es nicht. Vielleicht. Manchmal redet man ja über diese Streaming-Dienste. Aber ich könnte mir denken, das geht wie mit dem Computer-Unterricht und dem Präsenz-Unterricht. Man fand das erst ganz toll, auch digitalen Unterricht. Heute sagen doch viele, es ist kalter Kaffee. Nichts ist so effektvoll wie Präsenz-Unterricht. Das echte Treffen ist einfach besser.
Was wir aber mitnehmen werden, das glaube ich, ist, dass wir gemerkt haben, was der Unterschied zwischen Brauchtum und einem Event ist. Ein Event ist eine Eintagsfliege. Brauchtum hat ein Vorher und Nachher. Man hält eine Beziehung aufrecht und wenn man sich nicht im Sitzungssaal sehen kann, dann schickt der Präsident eben ein Care-Paket, mit Orden, Luftschlangen, Pappnasen, Vereinsheftchen - man hält die Bindung aufrecht.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.