DOMRADIO.DE: Sie wollten das Jubiläum mit einem Neujahrskonzert im Kölner Gürzenich einläuten. Das ging wegen Corona nicht – wie traurig sind Sie, dass die Pandemie Ihnen da so ins Programm pfuscht?
Abraham Lehrer (Gründungsmitglied "231-2021 -1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e. V., Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Vorstand Synagogen-Gemeinde Köln): Wir sind natürlich sehr traurig und enttäuscht, dass Corona uns da einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich, dass wir noch mehr solche Striche bekommen werden, dass noch mehr den Corona-Schutzmaßnahmen zum Opfer fallen wird. Wenn wir hören, was die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin quasi schon beschlossen haben, wird es noch viel schwieriger sein, Veranstaltungen durchzuführen.
DOMRADIO.DE: Eigentlich waren die 12 Jahre Nazi-Herrschaft nur eine kurze Episode in der langen Geschichte des Judentums in Deutschland, aber der Holocaust hat natürlich alles verändert. Warum sollten wir jüdisches Leben in Deutschland dennoch nicht nur aus dieser Perspektive sehen?
Lehrer: Ich bin Kind von Schoah-, von Holocaust-Überlebenden. Ich kann, ich will diese Zeit nicht vergessen, nicht verdrängen; ich will keinerlei Schlussstrich unter diese Ära ziehen. Aber es ist auch vollkommen klar: Das Judentum definiert sich nicht allein über die 12 Jahre der Schoah oder der Nazizeit; und so soll es auch nicht in den Augen, in den Köpfen unserer Gesellschaft und in Europa sein.
Judentum ist etwas Lebendiges, etwas Fröhliches; und wir hoffen, dass es uns mit diesem Festjahr gelingen möge, viel von dieser fröhlichen Natur der Religion an unsere Gesellschaft zu vermitteln und den Menschen zu zeigen, dass zwar die Schoah ein ganz besonderes Verbrechen gewesen ist und etwas, das man absolut nicht vergessen und das sich nicht wiederholen darf, dass aber nichtsdestotrotz jüdisches Leben eine Bereicherung für unser Land, für unsere Gesellschaft, für unsere Religion darstellt.
DOMRADIO.DE: Wie viel beziehungsweise wie wenig wissen Durchschnittsdeutsche heute über die reiche jüdische Tradition im Land – was ist Ihre Erfahrung?
Lehrer: Immer wieder sagen mir Leute: "Ich habe natürlich in der Schule über die Schoah gelernt. Und meine Verbindung zu jüdischem Leben, zu Juden ist im Prinzip dieses Thema, also der Holocaust." Das möchten wir so nicht haben. Noch einmal: Wir möchten dieses Thema nicht vergessen, wir möchten es nicht abschließen. Aber es muss möglich sein, auch die andere Seite zu zeigen – nämlich das Positive, die positiven Einwirkungen und Auswirkungen jüdischen Lebens auf unser Land, auf unsere Gesellschaft - damit sich das Bild des Judentums nicht ausschließlich auf die Schoah stützt.
DOMRADIO.DE: Was sollten denn am besten alle über das Judentum in Deutschland wissen?
Lehrer: Wünschenswert wäre zum Beispiel, dass die Menschen die jüdischen Feiertage kennen. Ich muss sie nicht in allen Einzelheiten erklären können. Aber es wäre schön zu wissen, dass etwa zur Zeit von Ostern das jüdische Pessach-Fest und etwa zur Zeit von Pfingsten das jüdische Schawuot-Fest gefeiert wird. Oder dass im Herbst - wie wir das immer beiläufig nennen - die "Herbst-Manöver" stattfinden, also das Neujahrsfest und das Versöhnungsfest, die höchsten beiden jüdischen Feiertage und das Laubhüttenfest.
Also wenn der Bevölkerung klar wäre, dass es Zeiten gibt, in denen Juden Probleme haben, Termine zu machen mit städtischen Einrichtungen, auf Landesebene oder auch im rein privaten Bereich, dann wäre uns schon sehr geholfen.
DOMRADIO.DE: Wie viel hat Antisemitismus mit Nicht-Wissen über jüdisches Leben zu tun, was denken Sie?
Lehrer: Antisemitismus bestimmt unser Leben tagtäglich. Ich will dazu zwei Dinge anmerken. Unser jetziger Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, hat bei seinem Amtsantritt gesagt: "Ich möchte gerne auch einmal die schönen Seiten jüdischen Lebens in Deutschland darstellen." Das gleiche hat auch schon sein Vorgänger Dr. Dieter Graumann und davor bereits die Präsidentin aus München, Charlotte Knobloch, gesagt – bis hin zu Ignaz Bubis. Aber nie ist es wirklich dazu gekommen, weil die Tagesereignisse wie antisemitische Vorfälle und extremistische Anschläge dazu geführt haben, dass die jüdische Gemeinde sich vorrangig mit Dingen wie Sicherheitsfragen beschäftigen musste oder muss und sich nicht wirklich um die Präsentation ihres reichhaltigen Lebens kümmern konnte.
Das ist der eine Anteil an der Geschichte. Der zweite ist: Wir müssen endlich verstehen, was es für einen Menschen bedeutet, wenn er sein Kind zum Religionsunterricht schickt oder ins Jugendzentrum, wenn er sein Kind zum Gottesdienst mitbringt, und jedes Mal steht draußen vor der Tür die Polizei und bewacht diese Zusammenkunft, dieses Ereignis. Das ist etwas, was man sich kaum vorstellen kann. Ich erinnere mich, wie anlässlich der Bar Mizwa unserer Kinder unsere nicht-jüdischen Freunde und Nachbarn gesagt haben: "Wie haltet ihr das bloß aus?! Wenn wir uns das vorstellen, vor der Kirche stünde jedes Mal die Polizei mit einem dicken gepanzerten Wagen… Wir können uns das gar nicht vorstellen!" Wir sind das gewohnt, unsere Kinder sind es gewohnt. Das ist fürchterlich, und ich hoffe, dass es eines Tages vorbei sein wird.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich, welche Signale sollen von diesem Festjahr ausgehen?
Lehrer: Wenn es uns gelingt, über dieses Festjahr in unsere Gesellschaft hinein zu transportieren, dass jüdisches Leben einen kleinen, entscheidenden Anteil an der Entwicklung unserer Gesellschaft, an der Entwicklung unseres Landes hat und hatte, dann gibt uns das viel Hoffnung. Die Hoffnung nämlich, dass wir die Menschen geimpft und imprägniert haben gegen die Rattenfänger von rechts, gegen Verschwörungstheoretiker oder sonstige Menschen, die nicht davor zurückschrecken, heute noch antisemitische Parole zu verwenden.
Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.
Weitere Informationen zum Festjahr finden sich unter https://www.1700jahre.de/