"Lebende Zeitbomben" nannte sie der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen: die Kinder, die im Kriegsgebiet der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zur Welt kamen.
Aktuell ist das Problem noch gering, aber allmählich kehren die Eltern mit den Kindern nach Deutschland zurück. Beratungsstellen bereiten sich daher auf die Rückkehrer vor. Und viele fragen sich: Wie soll die Gesellschaft reagieren?
1.050 deutsche Islamisten sind laut Bundeskriminalamt (BKA) nach Syrien oder in den Irak gereist - mehr als 200 von ihnen waren Frauen. Derzeit befindet sich die Zahl der rückkehrwilligen Deutschen in der Region der Behörde zufolge im hohen zweistelligen Bereich.
Mehr als die Hälfte der Betroffenen, die sich großteils in Gefangenschaft befinden, sind demnach Frauen. Bei ihnen befinde sich eine niedrige dreistellige Zahl Minderjähriger, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen - "wobei der Großteil im Baby- bzw. Kleinkindalter sein dürfte".
"Kinder sind immer erstmal Opfer - und wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu Tätern werden", sagt Claudia Dantschke. Sie leitet die Beratungsstelle für Deradikalisierung Hayat. Zudem hätten sich die IS-Kämpfer in Deutschland radikalisiert und seien dann ausgereist, fügt die Islamismus-Expertin hinzu. Die deutsche Gesellschaft müsse daher alles tun, um die Gefahr zu bannen. "Das geht am besten, indem man sich um sie kümmert. Dadurch können sie sich von der Ideologie distanzieren und wieder in die Gesellschaft integriert werden."
Rund die Hälfte der deutschen Kinder von IS-Kämpfern sind laut Dantschke im Kriegsgebiet geboren und wahrscheinlich unter drei Jahre alt. Manche Familien hätten die Region rechtzeitig verlassen; andere erlebten derzeit Kämpfe. Deswegen spielten klassische Kriegseinflüsse wie Mangelernährung oder Krankheiten bei ihnen eine Rolle, so die Expertin. Bei manchen Kindern komme es zu Entwicklungsstörungen.
Psychologen und Pädagogen müssten indes prüfen, unter welchem ideologischen Einfluss vor allem ältere Kinder standen. "Bisher gibt es keine Hinweise, dass Kinder aus Deutschland bei Kampfausbildungen im Kriegsgebiet dabei waren", betont Dantschke.
Alltag herstellen
Traumatisierte Kinder und Jugendliche behandelt Sibylle Winter, Leiterin der Traumaambulanz der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters. Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit können die körperliche und seelische Gesundheit des ganzen Lebens beeinträchtigen, erklärt Winter. Um das zu verhindern, empfiehlt die Ärztin nach Gewalterfahrungen möglichst schnell einen normalen Alltag herzustellen. Außerdem sei soziale Unterstützung und Sicherheit wichtig. Falls sich ein Kind trotzdem auffällig verhält, sollte es Winter zufolge von einem Traumatherapeuten behandelt werden.
Um die soziale Stabilität kümmern sich die Mitarbeiter von Hayat. Ziel sei es, möglichst eine Anbindung an die Herkunftsfamilie der Ausgereisten herzustellen. Eine soziale Reintegration gelinge durch ein normales Leben mit Arbeit und Kindergartenplatz. "Das darf nicht losgelöst von der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen passieren - die Betroffenen müssen sich fragen, wieso sie das Kalifat des IS als ideales Lebensumfeld empfunden haben", erklärt Dantschke. Ein Bruch mit der Ideologie sei notwendig - zur Mitarbeit zwingen könne man die Rückkehrer aber nicht.
Dass eine Mutter beim IS war, reicht nicht, um ihr ein Kind wegzunehmen - und auch nicht für einen Haftbefehl, wie Dantschke erklärt. Man müsse den Rückkehrern eine sogenannte Unterstützungsleistung nachweisen, um einen Haftbefehl zu erlassen.
Und damit das Jugendamt einen Fall prüft, muss es einen aktuellen Hinweis auf Kindeswohlgefährdung geben.
Wie genau der Umgang mit den Rückkehrern aussehen soll, ist noch unklar. Zwischen Bundesländern, Behörden, Wissenschaft und Politik herrsche Uneinigkeit darüber, was Deradikalisierung praktisch bedeute, heißt es in dem Papier "Herausforderung Deradikalisierung" des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Fachkräfte ausbilden
Das sieht auch Islamwissenschaftler Michael Kiefer so, der an der Veröffentlichung mitgearbeitet hat. Die größten Problem gebe es bei der Arbeit vor Ort - ob mit Menschen, die sich aktuell radikaliseren, oder mit Rückkehrern. "Unsere Fachkräfte sind nicht ausgebildet für den Umgang mit radikalen Familien", erklärt er. Für Familienrichter oder Pädagogen müssten Infomaterial und Schulungen angeboten werden.
Dann könnten sie präventiv reagieren, noch bevor es zu einer Radikalisierung komme.
Hayat kümmert sich nach eigenen Angaben um die Herkunftsfamilien von rund 40 Erwachsenen mit knapp 50 Kindern, die noch in Syrien und dem Irak sind. Viele dieser Familien betreut die Beratungsstelle laut Dantschke, seit ihre Kinder ausgereist sind. "Wir betreuen noch nicht viele, die zurückgekehrt sind. Die Zahl liegt im einstelligen Bereich", sagt die Expertin. Viele seien noch in syrischen Gefangenenlagern oder in den letzten Restgebieten des IS. Aber nach und nach kommen sie zurück nach Deutschland.
Islamwissenschaftler Kiefer wendet sich gegen Panikmache. Die Situation sei mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, meint er: "Kinder von Mitgliedern der SS oder der SA führten nach dem Krieg meist ein völlig unbescholtenes Leben."
Viele erwachsene Rückkehrer sind Kiefer zufolge schon von der Ideologie "geheilt". Ein Teil glaube aber noch an ein IS-Kalifat, und das seien die eigentlichen Problemfälle. Beratungsgespräche zu führen, sei häufig aussichtslos. Gleichzeitig könne davon ausgegangen werden, dass sich die Radikalität von Menschen ab einem Alter von 30 Jahren abschwäche, so Kiefer. "Wie jeder andere Mensch können auch radikale Menschen ihre Perspektive wechseln", betont der Islamwissenschaftler. Die Menschen müssten besonders den Kindern der IS-Anhänger die Chance geben, sich zu entwickeln.
"Es gibt zudem keinen Grund, die Situation zu überdramatisieren - wir reden hier von rund 200 oder 300 Frauen und ihren Kindern", sagt Kiefer. Was die Kinder betrifft, sei das in erster Linie eine pädagogische Herausforderung, aber keine für die Sicherheitsbehörden. "Und aufgeben würde ich sowieso niemanden."