Helle Balken ragen weit in den Raum, große Buntglasfenster werfen je nach Lichteinstrahlung ihre roten, blauen oder gelben Töne auf die 13 Meter hohen Wände, eine Säge kreischt laut auf. Die katholische Kirche St. Michael im hessischen Kurstädtchen Bad Orb sieht von außen aus wie eine Kirche, im Inneren dagegen ist es eine Baustelle. Handwerker bauen das ehemalige Kirchenschiff zu einer Boulderhalle um, einem Zentrum für Kletterer.
Klettern ohne Seil
"Wir hatten beide die gleiche Idee", erzählt Marc Ihl und meint damit sich, seinen Freund Marco Köhler und die Zukunft der Kirche. Die war seit 2016 geschlossen, als die beiden Hobby-Kletterer Ihl und Köhler gemeinsam mit ihren Familien beim Sonntagsspaziergang daran vorbeigelaufen sind. "Die eignet sich zum Bouldern", dachten die Männer und machten sich an die Arbeit.
Beim Bouldern geht es um das Klettern ohne Seil und Gurt an Fels- oder künstlichen Kletterwänden. Die Sportler sind nur bis zu einer Höhe unterwegs, aus der ohne Verletzungsrisiko der Absprung möglich ist.
Kaum Alternativen
Für die Nutzung der 1964 eröffneten Kirche seien schon eine Kita und auch ein Kolumbarium im Gespräch gewesen, sagt der katholische Pfarrer in Bad Orb, Stefan Kümpel, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Beides erwies sich als nicht umsetzbar. Also stand die Kirche einfach herum.
Die defekte Heizung, der marode, inzwischen abgerissene Turm und die kleiner werdende Schar von Katholiken hatten - wie andernorts auch - dazu geführt, dass die Kirche nicht mehr genutzt wurde. Als Ihl und Köhler mit ihrer Idee einer "Boulderchurch" auf die Gemeinde zukamen, "hatten wir ansonsten die Alternative, das Gebäude langsam zerfallen zu lassen oder eine Lagerhalle daraus zu machen. Beides wollten wir nicht", betont Kümpel.
Bei einer Gemeindeversammlung zur Vorstellung des Projekts habe es keinerlei Probleme gegeben. Zumal es gelungen sei, beim Bistum Fulda eine Teilentweihung durchzusetzen. Die Gemeinde wird die seitliche Kapelle weiter nutzen, und zwar als "Winterkirche", wie Kümpel sagt. Die Jugend der etwa 4.000 Mitglieder zählenden Gemeinde hat bereits einen Taizé-Gottesdienst in dem sakralen Raum gefeiert, weitere Angebote für junge Menschen sollen folgen.
Kirche mit persönlicher Geschichte
Aus seiner Jugendzeit kennt auch Marc Ihl die Kirche. "Nach den Freizeiten haben wir hier Jugendgottesdienste gefeiert", erinnert sich der 35-Jährige. Sein Projektpartner Köhler stammt nicht aus Bad Orb, allerdings dessen Ehefrau. "Meine Schwiegereltern wurden hier getraut und meine Frau getauft. Und ich habe dann das Taufbecken rausgeschleppt", erzählt Köhler und schüttelt mit einer Mischung aus Staunen und Begeisterung den Kopf.
Begeistert sind die beiden Männer spürbar. Sie haben für die Kirche einen langfristigen Mietvertrag abgeschlossen und investieren viel Geld, Zeit und Arbeit in das Projekt. Aus der ehemaligen Empore wird eine Trainingsfläche mit Slackline, einem Kunstfaserseil zum Balancieren, und Griffen zum Üben, erzählen sie. Der Beichtstuhl soll zur Expressumkleide werden und über dem Platz, an dem einst der Altar stand, entsteht eine zweite Ebene, die weitere Kletterflächen erschließt. Das alte Eichenholz der bereits zersägten Kirchenbänke liegt an der Seite des Kirchenschiffs und ist Material für neue Möbel.
Große Investments
Seit Anfang November sind vor allem Mitarbeiter von Marco Köhler, der Inhaber einer Schreinerei ist, mit den Umbauarbeiten beschäftigt. "Ich weine jeden Tag, an dem ich hier nicht selbst mitarbeiten kann", sagt Köhler bedauernd. Ihl ist studierter Betriebswirt und zuständig für das Kassensystem und anderes. Er spricht von einer "guten Symbiose".
Im Inneren der Kirche verbauen die Handwerker 26 Tonnen Holz für die Konstruktion der zweiten Ebene, dazu kommen die Kletterwände. Entstehen sollen 500 Quadratmeter Kletterfläche. Geplant seien später zudem 200 Quadratmeter an den Außenwänden, erzählt Ihl. Gemeinsam investieren die Freunde 350.000 Euro in den Umbau, dazu kommen 100.000 Euro aus einem europäischen Förderprogramm für Regionalentwicklung und später eventuell noch einmal 200.000 Euro für die Außenwände. Läuft alles nach Plan, machen sich am 12. April die ersten Kletterer auf den Weg nach oben.