Auszüge aus dem Demokratiepapier der Kirchen

"Dringender Handlungsbedarf"

Die beiden großen Kirchen haben am Donnerstag ein Dokument "Demokratie braucht Tugenden" vorgelegt. Darin thematisieren sie Erwartungen an Bürger, Politiker, Medien und Lobbyisten und mahnen eine langfristig ausgerichtete Politik an, die das Gemeinwohl im Blick haben solle. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge aus dem knapp 50-seitigen Text. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt, lehnen sich aber an Zwischentitel des Dokumentes an.

 (DR)

"Unser demokratisches Gemeinwesen steht vor Aufgaben, die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind. Erschüttert ist die Vorstellung, alle Einzelinteressen fügten sich harmonisch zum Gemeinwohl, überließe man sie nur der unsichtbaren Hand des Marktes oder der sichtbaren Hand des Staates. Seit Jahren wird intensiv diskutiert, was zu tun ist. Aber die Wahrnehmung der Herausforderungen und die lebhafte Auseinandersetzung darüber, wie diesen zu begegnen sei, haben unser Land noch nicht wirklich in Bewegung gesetzt. Mit kleinen Schritten und gelegentlichen Appellen an den Patriotismus sind die heute notwendigen Veränderungen nicht zu erreichen. Allerdings: Etwas anderes als vergleichsweise kleine Schritte, so zeigen es Umfragen und auch Wahlergebnisse, wünscht eine Mehrheit von Wählerinnen und Wählern offenbar nicht.

Doch zugleich ist die Erkenntnis weit verbreitet, dass die Zukunft so nicht zu gewinnen ist. Die Verantwortung dafür wird freilich immer anderen zugewiesen, vorzugsweise "der Politik". Es fehlt die Einsicht, dass für die Handlungs- und die Leistungsfähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens seiner Natur gemäß alle verantwortlich sind. Und es fehlt ebenso die Einsicht, dass die Demokratie nicht nur verlässliche Strukturen und Verfahren der politischen Entscheidungsfindung braucht, sondern zugleich auf die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung angewiesen ist. Demokratische Institutionen können auf Dauer ihre Funktion nur erfüllen, wenn die politisch Handelnden Grundhaltungen erkennen lassen, die über die Strategieregeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Einfluss hinausgehen. Demokratische Institutionen sind zugleich nur lebensfähig, wenn alle Bürgerinnen und Bürger sich für diese Institutionen mitverantwortlich wissen. Die Demokratie braucht politische Tugenden. (...)

Herausforderungen der Gegenwart
Das zentrale Gegenwartsproblem ist die hohe Arbeitslosigkeit.
Zahlreiche Folgeprobleme haben darin ihre Ursachen: In immer größerem Umfang müssen Steuergelder aufgebracht werden, um die Folgeschäden der Unterbeschäftigung zu begleichen. Die Menschen spüren diese Krise. Viele Arbeitslose fühlen sich von einer Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen. Das gilt insbesondere auch, wo die Integration von Zuwanderern nicht hinreichend gelungen ist und ihnen deshalb der Zugang zu Gesellschaft und Arbeitsleben fehlt. Eine grundlegende Besserung ist nicht in Sicht. Zugleich kann das Gemeinwesen seinen Bürgerinnen und Bürgern immer weniger die gewohnten Leistungen in den Bereichen Gesundheit, Alterssicherung, Sozialhilfe, Bildung usw. gewährleisten. Es ist nötig, das rechte Verhältnis zwischen dem herzustellen, was der Staat leisten soll und was er leisten kann, und den Aufgaben, die die Einzelnen zu übernehmen haben. Mehr Beteiligungsgerechtigkeit ist notwendig.

Das zentrale Zukunftsproblem ist die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft. In Deutschland gibt es zu wenig Menschen, die sich für eine Familie und Kinder entscheiden. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig: Am Anfang mag für viele die Scheu vor der Übernahme langfristiger Bindungen und Lasten stehen. Aber auch die unsichere Situation auf dem Arbeitsmarkt und eine unzureichend auf Kinder eingestellte Lebensumwelt machen die Entscheidung für Kinder nicht eben leicht. Wer sie für seine Familie nicht trifft, verzichtet aber auf eine nachhaltige Lebensfreude. Für die Familie wie für die Gesellschaft gilt: Ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Deshalb darf es bei den gesellschaftlichen und politischen Erschwernissen für das Leben mit Kindern nicht bleiben. In der derzeitigen Struktur der sozialen Sicherung werden "die Alten" gegenüber "den Jungen" und insbesondere die Kinderlosen gegenüber jenen bevorzugt, die Kinder großziehen. Die Möglichkeiten zu einer Vereinbarung von Elternverantwortung und Berufstätigkeit einerseits und zur Entscheidung für eine Erziehungstätigkeit ohne Benachteiligung andererseits sind noch unzureichend ausgestaltet. Mit dem Rückgang der Familien ist auch der Verlust einer wesentlichen Form gesellschaftlicher Solidarität verbunden. Die Überschuldung des Staates begrenzt nicht nur den Handlungsspielraum der politischen Akteure erheblich, mit ihrer Hilfe leben wir heute auf Kosten der nach uns kommenden Generationen. (...)

Die entscheidenden Fragen lauten mithin: Wie kann demokratische Politik von den schwierigen Ausgangsbedingungen her die Kraft gewinnen, ihren Teil zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen beizutragen? Und besonders: Wie kann die Gegenwartsfixierung der Politik aufgebrochen werden, damit sie ihrer Zukunftsverantwortung gerecht werden kann? Die Institutionen und Verfahrensweisen der Demokratie müssen dazu ihren Beitrag leisten. Doch dies wird nur Erfolg haben, wenn die Politiker den Mut zu einer langfristig orientierten Politik aufbringen und die Bürger bereit sind, die daraus entstehenden Lasten für die Gegenwart zu tragen. (...)

Verantwortung der Kirchen
Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht. Das politische, ökonomische und rechtliche System in Deutschland wie in Europa insgesamt ist wesentlich geprägt von jüdisch-christlichen Wertvorstellungen. Im deutschen Grundgesetz hat das christliche Bild vom Menschen seinen Niederschlag gefunden. Dieses Bild vom Menschen ist dadurch bestimmt, dass der Mensch zu freier Entscheidung fähig ist und zugleich immer in solidarischer Verbundenheit mit anderen lebt. Er ist zu verantwortlicher Selbstbestimmung herausgefordert. Sicher können aus dem christlichen Menschenbild nicht direkt ökonomische oder politische Handlungsanweisungen hergeleitet werden. Aber mit seinen zentralen Kategorien der Freiheit, der Würde und der Selbstbestimmung zeigt es einen ethischen Mindeststandard, der in jedem Fall gewahrt bleiben muss, wenn konkrete Entscheidungen getroffen werden. (...)

Notwendigkeit politischer Tugenden

Die für die Demokratie grundlegenden ethischen Standards politischen Verhaltens hingegen haben bisher zu wenig Beachtung gefunden. Eine pauschale Parteien- und Politikerschelte, wie wir sie bisweilen erleben, ist dafür kein Ersatz. Sie ist das Gegenteil eines solchen Nachdenkens. Politische Tugenden verlangen mindestens die gleiche Beachtung wie demokratische Institutionen.

Politisch gehandelt wird in der Demokratie in unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. Für jede dieser Rollen gelten spezifische Verhaltenserwartungen. Gemeinsam ist allen, dass politisches Handeln immer, wenn auch in unterschiedlicher, gestufter Weise, das Wohl der Gesamtheit zu bedenken hat. Gemeinsam ist den Verhaltenserwartungen an die verschiedenen Gruppen auch, dass sie nicht isoliert, sondern in ihrer Beziehung zueinander betrachtet werden müssen. Schon dieser Verflechtung wegen ist es ganz unangemessen, immer nur "die Politiker" an den Pranger zu stellen. Nicht nur sie, sondern alle Handelnden - und Handlungsfähigen - stehen für das Gelingen der Demokratie in der Pflicht. Alle müssen über die Grenzen ihrer jeweiligen Rollen hinaus sehen und denken. (...)

Was ist von Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten? Nach Aristoteles
(384-322 v. Chr.) besteht die Tugend des Bürgers darin, Freie und Gleiche regieren zu können und sich von ihnen regieren zu lassen.
Das gilt noch immer. Dies verlangt, nach den anerkannten Regeln der Zuständigkeit (Verfassung) zu verfahren und in politischen Fragen zu überzeugen statt zu zwingen. Am schwersten zu ertragen ist es, überstimmt zu werden und dennoch den Mehrheitsbeschluss gelten zu lassen, wiewohl Mehrheit und Wahrheit zweierlei sind.
Von den Bürgerinnen und Bürgern ist aber noch mehr zu erwarten:

- Dass sie sich nach Kräften um die Angelegenheiten kümmern, die sie selbst und diejenigen betreffen, für die sie Verantwortung tragen, und dass sie Hilfe, wie es die christliche Sozialethik im Subsidiaritätsprinzip ausformuliert hat, erst dann beanspruchen, wenn sie sich tatsächlich nicht selbst helfen können. Dann allerdings soll sie ihnen auch zur Verfügung stehen. Die Bürgerinnen und Bürger machen sich jedoch selbst zu Untertanen, wenn sie von einem "Vater Staat" fordern, sie rundum zu versorgen. Ihr Gewissen und ihre Selbstachtung sollten ihnen verbieten, sich staatliche Leistungen zu verschaffen, die ihnen nicht zugedacht sind oder gar nicht einmal zustehen. Denn was der Staat verteilt, ist in Wahrheit immer das Geld der Bürgerinnen und Bürger. Ebenso sind das Entziehen von Steuern durch Steuerflucht und Steuerbetrug schwerwiegende Schädigungen der Solidarität.

- Dass sie die Wechselseitigkeit der Rechte und Pflichten akzeptieren (die Goldene Regel: "Was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch." Mt 7,12) und sich nach ihren Möglichkeiten um das Wohl ihrer Mitmenschen und ihres Gemeinwesens bemühen, statt sich als bloße Nutznießer der Leistungen anderer Vorteile zu verschaffen.

- Und dass sie sich für die gemeinsamen Angelegenheiten interessieren, also bereit sind, sich zu informieren und zu engagieren, zumal am eigenen Ort, statt "den Staat" oder "die Gesellschaft" bloß als fremde oder gar feindliche Macht zu sehen.
Hierzu gehört nicht nur, dass sie Solidarität in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis zeigen, sondern hierzu zählt auch die Übernahme der Pflichten gegenüber der eigenen Gesellschaft und der Weltgesellschaft. Ohne Zivilcourage ist solches Engagement kaum möglich, ohne die Bereitschaft zur Verständigung mit Anderen - etwa für gemeinsame Bürgerinitiativen
- bleibt es oft schwach und zumeist erfolglos. (...)

Erwartungen an Politiker
Die Politikerinnen und Politiker müssen stellvertretend für alle Bürgerinnen und Bürger entscheiden, was im Blick auf das Ganze geboten ist. Dabei kann der Konflikt zwischen ihrer Gemeinwohlverpflichtung und ihren politischen Überlebens- und Erfolgsinteressen entstehen. Er ist nach aller Erfahrung besonders wahrscheinlich, wenn es um die Belange der Zukunft geht. Das Gemeinwohl hat eine Zukunftsdimension, die oft gegen die Wählerinnen und Wähler hier und heute geltend gemacht werden muss. Die gewählten Politikerinnen und Politiker müssen auch Repräsentanten derer sein, die heute noch keine Stimme haben. Die Kirchen rufen sie dazu nicht nur auf, sie wollen sie darin auch unterstützen. Denn die, deren Stimmen gegenwärtig über ihre politische Zukunft entscheiden, machen ihnen das häufig besonders schwer. (...)

Wer glaubwürdig ist, kann sogar dann noch politisch führen, wenn die Überzeugungskraft von Argumenten an Grenzen stößt.
Glaubwürdigkeit setzt Wahrhaftigkeit, persönliche Integrität und schließlich auch Kompetenz voraus. Ohne Glaubwürdigkeit der Politikerinnen und Politiker gibt es kein Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Vertrauen aber ist das Kapital, das allein die Politiker befähigt, ein freiheitliches Gemeinwesen auch über schwierige Wege zu führen. Nur Politiker, denen die Bürger vertrauen, können diese - beispielsweise bei einem notwendigen Rückbau von wohlfahrtsstaatlichen Standards - auch in die Pflicht nehmen. Politiker, die auf ihre Glaubwürdigkeit und deren Voraussetzungen nicht Bedacht nehmen, zerstören die Handlungsspielräume der Politik in der repräsentativen Demokratie. (...)

Legt man die skizzierten Standards zu Grunde so ist offenkundig, dass deutliche, wenn auch ganz gewiss nicht pauschale Kritik an politischen Funktionsinhabern unserer Republik so berechtigt wie notwendig ist. Auch gut vorhersehbare kritische Entwicklungen - wie der demografische Wandel oder die Verengung der künftigen politischen Handlungsspielräume durch eine hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte - sind von der Politik lange Zeit nicht angemessen berücksichtigt worden. So wurde der unvermeidlichen grundlegenden Reform der Sozialversicherungssysteme durch nur begrenzt wirksame Reparaturen lange ausgewichen. Der Preis, der für dieses Aufschieben des Notwendigen gezahlt werden muss, ist inzwischen sehr hoch geworden. Noch immer sind die Anstrengungen nicht ausreichend, die Bürgerinnen und Bürger von den Notwendigkeiten des Handelns zu überzeugen und sich eben dadurch die Handlungsspielräume, die die Politik braucht, zu schaffen, indem man ihnen die Lage des Gemeinwesens deutlich macht. Allzu oft fehlt es an der Standfestigkeit, die nötig ist, um Entscheidungen auch gegen heftige Proteste durchzuhalten. Es fehlt an dem Selbstvertrauen, das nötig ist, um Einsicht in Notwendigkeiten zu vermitteln, und an der Fähigkeit, zu den Anstrengungen zu ermuntern, die um der Zukunft willen geboten sind. (...)

Journalisten als Partner und Widerpart
Politik und Medien sind eng miteinander verflochten - oft so eng, dass geradezu von einem "politisch-medialen Komplex" gesprochen werden kann. In diesem symbiotischen Geflecht sind politische Korrespondenten und Redakteure ständig mit Bemühungen der Politik konfrontiert, sie für Machtinteressen zu instrumentalisieren.
Spitzenpolitikern steht zu diesem Zweck ein Arsenal bewährter
Belohnungs- und Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Wenn Autohersteller, Reiseveranstalter oder Gastronomen versuchen, Fachredakteure durch opulente Geschenke freundlich zu stimmen, dann gilt das zu Recht als bedenklich. Die Währung, in der politische Journalistinnen und Journalisten freundlich gestimmt werden sollen, ist von subtilerer Art als ein geldwerter Vorteil:
Stoff für interessante Nachrichten gehört dazu, ein Interviewtermin oder die Mitnahme auf eine Auslandsreise. Werden "unbotmäßigen" Journalisten solche Vergünstigungen entzogen, hat das die Wirkung einer harten Bestrafung. Werden sie ihnen großzügig gewährt, geraten sie in Versuchung, sich dafür durch gefällige Berichte und Kommentare erkenntlich zu zeigen.
Politische Korrespondenten und Redakteure sind, im Streben nach bewusst objektiver Berichterstattung, täglich neu konfrontiert mit der Notwendigkeit, die prekäre Balance zu halten zwischen übertriebener Nähe und übertriebener Distanz zur Politik, zwischen kritikloser Anbiederung und totalem Misstrauen. (...)

Dazu gehört zuerst bei den Verbänden und ihren Leitungen selbst die Bereitschaft, "ihre Macht auch da maßvoll zu nutzen, wo keine Rechtsnorm sie dazu zwingt". Bei allem Verständnis für die Vertretung von Sonderinteressen muss gerade von den einflussreichen Verbänden verlangt werden, den Vorrang des Gemeinwohls in Programm und Praxis anzuerkennen. (...) Nötig ist die bewusste Dämpfung des Gruppenegoismus, um ihn in einem gemeinverträglichen Rahmen zu halten. Die Wahrung der Belange der Schwachen in der Gesellschaft sollte nicht allein davon abhängen, dass die Kirchen oder zivilgesellschaftliche Gruppen für sie eintreten. (...)

Chancen mutig nutzen
Das demokratische Gemeinwesen in der Bundesrepublik Deutschland steht vor einer harten Bewährungsprobe. Es verfügt über gute Voraussetzungen, sie zu bestehen. Die dafür gegebenen Chancen allerdings müssen mutig genutzt werden. (...) Die Entfaltung demokratischer Tugenden ist eine notwendige Bedingung dafür, Demokratie zu erhalten und lebendig zu halten. Eine andere notwendige Bedingung für eine gute Zukunft des demokratischen Gemeinwesens ist das Vorhandensein belastbarer und leistungsfähiger Institutionen. Die vielleicht wichtigste aller Ressourcen auf dem Weg in die Zukunft aber ist eine begründete Hoffnung. Gott selbst schenkt uns Hoffnung und damit Mut zur Zukunft. Und er fordert uns auf, davon Zeugnis zu geben: "Haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" (1 Petr 3,15).(...)