KNA: Wie kam es, dass Ihnen die einst so vertraute Kirche und die Gottesdienstgemeinschaft fremd geworden sind?
Regina Laudage-Kleeberg (Religionswissenschaftlerin und Autorin): Das war ein langer Prozess, und noch bin ich in der Kirche. Die Liturgie ist mir eine große Kraftquelle, und ich ziehe sehr viel positive Energie aus guten Gottesdiensten. Diese Möglichkeit ist in der Pandemie weggefallen. Beruflich habe ich mich intensiv mit Kirchenaustritt beschäftigt, deshalb kann ich die Entwicklung auch fachlich anschauen. In meinem Buch erzähle ich die Geschichte des Fremdwerdens; die Pandemie hat diesen Prozess sicher beschleunigt.
Ich habe in dieser Zeit gemerkt, dass mir die vertrauten liturgischen Kraftmomente gefehlt haben; gleichzeitig sind weitere Skandale in der Kirche publik geworden. Je intensiver ich darüber nachdachte, desto genauer habe ich mir die katholische Kirche angesehen und gemerkt, wie viel da inzwischen schliefläuft. Und irgendwann ist die Waage gekippt...
KNA: Was hat Sie veranlasst, andere über dieses Buch an Ihrem Befinden teilhaben zu lassen?
Laudage-Kleeberg: In den vergangenen zehn Jahren sind viele kluge Debattenbücher über die Kirche und deren Missstände geschrieben worden. Mir persönlich fehlte eine Erzählung zu dem Gefühl, mit der eigenen Sehnsucht nach Angenommensein nicht mehr angesprochen zu werden. Deshalb sind viele von uns auch so wütend oder verbittert.
Viele Menschen in meinem Umfeld waren lange tief überzeugt katholisch, manche auch sehr engagiert in der Kirche. Sie traten irgendwann aus. Dennoch bleiben sie auf eine intensive, meist negative Weise an die katholische Kirche gebunden und erzählen immer weiter davon.
KNA: Sie schreiben, dass man den Glauben nicht wie ein Kleidungsstück einfach ablegen kann.
Laudage-Kleeberg: Genau, durch die Abwendung von der Kirche entsteht oft eine Lücke. Die Menschen wissen nicht, wohin mit ihren spirituellen Sehnsüchten und dem Bedürfnis, in einem Ritual aufgehoben zu sein. Darüber wird wenig gesprochen. Ich wünsche mir, dass diese Menschen einen Ort bekommen, an dem sie sich aufgehoben fühlen. So einen Ort wünsche ich mir auch für mich.
KNA: Ihr Buch dürfte ein Lebensgefühl vieler von der Kirche enttäuschter Katholiken treffen. Tröstet es Sie, dass Sie mit Ihrem Empfinden nicht alleine sind?
Laudage-Kleeberg: Natürlich freut mich die große Resonanz. Schon in den ersten Wochen nach der Veröffentlichung haben sich unglaublich viele Menschen bei mir gemeldet. Darunter auch sehr viele Fremde, die sich die Mühe gemacht haben, meine Kontaktdaten zu suchen und mich zu kontaktieren. Die meisten schreiben: "Ich bin so berührt, so geht es mir seit Jahren. Ich hatte nur keine Worte dafür..."
KNA: Haben Sie auch Rückmeldungen von kirchlicher Seite bekommen?
Laudage-Kleeberg: Nein. Mein Buch hat nicht den Anspruch, offizielle Stellen anzuprangern, die Kirche zu retten oder zu verändern. Denn es ist wirklich alles schon erforscht und gesagt, etwa beim Reformprozess Synodaler Weg. Die Kirche müsste Entscheidungen treffen, das passiert aber nicht.
KNA: Sie schreiben, dass Sie Ihren Glauben und Ihr Katholischsein nicht verloren haben, wohl aber Ihr religiöses Zuhause in der Kirche und damit "obdachlos katholisch" sind. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Laudage-Kleeberg: Meine Familie und ich feiern sehr bewusst und sehr aktiv Gottesdienste mit Menschen, die wir schätzen. So haben wir während der Pandemie begonnen, im Treppenhaus unseres Mehrfamilienhauses Gottesdienste mit den Nachbarn zu feiern. Das war ein ziemliches Wagnis, schließlich kannten wir uns am Anfang nicht so gut.
Ich gehe sehr persönlich auf Menschen zu, mit denen ich mich religiös verbunden fühle. Wenn es stimmig ist, biete ich den Leuten nach meinen Lesungen an, noch einen Moment in Stille zusammenzubleiben, ein Lied zu singen oder ein Gebet zu sprechen. Das ist oft eine sehr intensive Erfahrung.
KNA: Es gibt immer weniger Pfarrer, die überhaupt noch Messen anbieten können. Müssen Menschen, denen noch etwas am Glauben liegt, nicht ohnehin aktiver werden und sich selbst organisieren?
Laudage-Kleeberg: Auch beim Schreiben des Buches ist mir klar geworden: Wenn ich mein Katholischsein weiter leben möchte, muss ich selbst viel aktiver werden und kann nicht mehr in einer Konsumhaltung verbleiben. Wir haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten darauf vertraut, dass vorne am Altar jemand steht und performt. Aus diesem Konsumverhalten müssen wir raus. Immer mehr reflektierte, mündige Gläubige entscheiden sich, nicht mehr in einen schlechten Gottesdienst zu gehen. Zugleich spüren sie eine sehr persönliche Sehnsucht.
KNA: Haben Sie Tipps für solche Menschen?
Laudage-Kleeberg: Es gibt natürlich auch weiterhin gute spirituelle Angebote, man muss nur ganz schön nach ihnen suchen. Wenn man sich nicht alleine aufmacht, ist das sicherlich ein bisschen einfacher.
Wir sollten in unserem Umfeld viel mehr über unsere religiösen Bedürfnisse sprechen. Ich mache das ganz bewusst. Oft treffe ich auf andere Katholiken, die sich dann öffnen und ihre eigene Geschichte erzählen. Oft kommen erstmal die Wut oder die Enttäuschung über die Kirche raus, aber dann Stück für Stück auch die tieferen Themen. Warum so ein Gespräch nicht ausklingen lassen mit einem spontanen gemeinsamen Gebet, einem Lied oder einem Verweilen in der Stille? Andererseits: Spiritualität in dieser Freiheit zu leben ist sicherlich nichts für Anfänger...
KNA: Haben Sie eine Idee, wo außer im Privaten ein neues spirituelles "Zuhause für die vielen Sehnsüchtigen" entstehen kann, wie Sie schreiben?
Laudage-Kleeberg: Ich habe keine Patentlösungen. Ich kann nur raten, sich untereinander auszutauschen und aufeinander zuzugehen. Denn meine aktuelle Erfahrung sagt mir, dass es ganz schön viele sind. Als Religionswissenschaftlerin sage ich: Der Glaube und das religiöse Verhalten werden - wie auch der Rest der Gesellschaft - immer individueller werden.
Deshalb ist es wichtig, darüber zu sprechen und sich gemeinsam auf die Suche zu machen. Wenn Sie Verbündete haben, dann halten Sie die gut fest. Ich hätte nie gedacht, dass mich mit unserer Hausgemeinschaft mal etwas Liturgisches verbinden könnte.
KNA: Haben Sie eine - wie auch immer geartete - Hoffnung, dass die obdachlosen Katholiken auch wieder eine Heimat in ihrer Kirche finden können? Oder ist dieser Zug längst abgefahren?
Laudage-Kleeberg: Während des Nachdenkens und Schreibens an dem Buch habe ich gemerkt, dass mein Katholischsein nicht davon abhängig ist, ob die Institution Kirche ihre Sache gut macht oder nicht. Ich glaube, dass Katholischsein - ganz theologisch und aus der Perspektive Gottes gesehen - viel größer gedacht ist. Diese radikale Liebe Gottes zu den Menschen ist so enorm groß, dass wir uns gelassen zurücklehnen können.
Das Interview führte Angelika Prauß.