Bei Menschenrechten ist China weiter ein Entwicklungsland

Versprechen nicht eingehalten

Der Freilassung des derzeit bekanntesten chinesischen Dissidenten, des Künstlers Ai Weiwei, zum Trotz: Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao, der am Montag in Berlin eintraf, verkörpert neben der Weltwirtschaftsmacht China auch ein Entwicklungsland - auf dem Gebiet der Menschenrechte. Das gilt auch für den Umgang mit Christen

Autor/in:
Olaf Jahn
 (DR)

Chinas Kommunistische Partei hat zwar in den vergangenen Jahrzehnten mehrere hundert Millionen Menschen aus der schlimmsten Armut befreit, verweigert dem Volk aber bis heute echte Mitsprache und Sicherheit vor willkürlicher politischer Verfolgung.



Wen Jiabao gilt manchen Beobachtern als Reformer, der das System schon deshalb verändern will, weil nur so das bedrohlich erscheinende Maß an Korruption in China eingedämmt werden kann. Mit dieser Einstellung gehört Wen jedoch nach Einschätzung von Beobachtern einem Lager an, das in der Volksrepublik deutlich in der Minderheit ist. Der Politikwissenschaftler Professor Joseph Cheng Yu-shek (City University of Hong Kong) sagte der South China Morning Post: Wen sei eindeutig die Stimme der Reformkräfte, aber diese "Leute in der Partei, die Interesse an Reformen haben" seien zweifellos in der Minderheit. Sie "können nicht viel machen". Andere Fachleute dagegen bezweifeln, dass die Reformbekenntnisse Wens und seiner Gefolgsleute mehr als leere Worte sind.



Tausende ihrer Würde beraubt

Fest steht dagegen: Während Ai Weiwei vor Wens Abreise nach wochenlanger Haft gegen Kaution und unter strengen Auflagen nach Hause entlassen wurde, bleiben Tausende von Menschen in China ihrer Freiheit - und oft auch ihrer Würde - beraubt. Zu diesen Menschen zählt unter anderem auch Liu Xiaobo, der im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller und Menschenrechtler. Wegen angeblicher "Untergrabung der Staatsgewalt" hält ihn die Regierung seit Dezember 2008 in einem Gefängnis fest.



Vor der internationalen Öffentlichkeit hat Chinas Regierung immer wieder Offenheit in Sachen Menschenrechte behauptet. Wen Jiabao beispielsweise sagt im vergangenen Oktober in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNN: "Ich glaube, die Freiheit der Rede ist für jedes Land unentbehrlich." Er sage oft, "dass wir den Menschen nicht nur die Freiheit der Rede lassen sollten". Es sei noch wichtiger, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen die Regierung kritisieren könnten.



Dieses Zitat allerdings, bemerkt Phelim Kine, China-Spezialist von Human Rights Watch, "hat die Menschen in China nicht erreicht". Wens Worte seien nur für die Weltöffentlichkeit gedacht gewesen, sagte Kine der Nachrichtenagentur dapd. Es gebe eine drastische Diskrepanz zwischen der Rhetorik, die Chinas Führer auf internationaler Ebene anschlage, und der Realität innerhalb Chinas, die viel düsterer sei.



Verprügelt, verhaftet, gefoltert

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal des Rechtsanwalts Gao Zhisheng, der sich für die Einhaltung der Menschenrechte eingesetzt und in Prozessen unter anderem Minenarbeiter und Mitglieder christlicher Untergrundkirchen vertreten hatte. Der einst auch von staatlicher Seite hochgelobte Jurist war 2005 aus der Kommunistischen Partei ausgetreten; bald danach wurde er unter Druck gesetzt und nach Angaben von Menschenrechtlern beobachtet und verfolgt. Er wurde mehrfach verprügelt, verhaftet, nach eigenen Angaben schwer gefoltert und zu einer Art Hausarrest verurteilt. Dennoch blieb er weiter aktiv und rief unter anderem zu einem Boykott der Olympischen Spiele in Peking (2008) auf. Im Februar 2009 wurde Gao verschleppt. Erst gut ein Jahr später tauchte er wieder auf, gab Interviews - und verschwand erneut. "Die Regierung sagt nicht, wo er ist. Offenbar ist Gao nicht in der Lage, sich zu melden", sagt Kine.



Der Experte weiß, dass Gaos Schicksal alles andere als ein Einzelfall ist. Kine hat untersucht, wie weit sich Chinas Regierung an den von ihr 2009 verabschiedeten, für die Zeit bis 2010 erstellten Nationalen Aktionsplan Menschenrechte (NHRAP) gehalten hat. Die Antwort darauf gibt schon der Titel seines für Human Rights Watch erstellten Berichts: "Unerfüllte Versprechen" (Promise unfulfilled") . In dem Dokument heißt es unter anderem: "In der gleichen Zeit, in der China auf den Plan als sein Bekenntnis zu den Menschenrechten verwies, hat die Regierung viele der grundlegenden Rechte, die der Plan anspricht, weiter kontinuierlich verletzt".



Prominente Dissidenten seien zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die Beschränkungen für Anwälte und Nichtregierungsorganisationen seien verschärft und die Freiheit im Internet und bei den Medien weiter eingeschränkt worden. Der Nachrichtenagentur dapd sagte Kine: "Seit etwa 2007 hat sich die Menschenrechtslage in China ständig verschlechtert".



Auch Christen werden verfolgt

In den Jahren 2009 und 2010 haben laut Kines verschiedene Menschenrechtsorganisationen Fälle schwerer Verletzungen der Rechte von Gefangenen dokumentiert - betroffen waren demnach bekannte Dissidenten ebenso wie Zehntausende normale chinesische Bürger. Menschenrechtler können ebenso Opfer willkürlicher Verhaftungen und Belästigungen werden wie Provinzler, die nach Peking reisen, um dort Petitionen vorzutragen. Offenbar besteht für sie und andere Verfolgte noch immer die Gefahr, gefoltert zu werden. Das ist laut dem Nationalen Aktionsplan zwar verboten. Doch ein UNO-Berichterstatter, der 2005 festgestellt hatte, dass Folter in China häufig vorkomme, schrieb in seinem Nachfolgebericht 2010: Er bedauere, dass China keine konkreten Schritte im Kampf gegen die Folter unternehme. Offenbar hatte sich die Situation nicht spürbar verbessert.



Erst Mitte April hat Wen öffentlich auf Veränderungen gedrängt. Nach Medienberichten forderte er Regierungsberater in einem Gespräch dazu auf, "die Wahrheit zu sagen". Es gehe darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen die Wahrheit sagten.



Kurz zuvor waren Ai Weiwei und mindestens ein Dutzend Christen verhaftet worden. Insgesamt zählten Beobachter allein für die Zeit zwischen Februar - damals riefen in Folge der arabischen Umbrüche Regimekritiker zur Jasmin-Revolution auf - und Ende April etwa 40 Verhaftungen. Maja Liebing, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, stellte fest: "Neben Ai Weiwei sind seit Februar über 130 Internet-Aktivisten festgenommen worden, die zu Protesten nach dem Vorbild der Jasmin-Revolution aufgerufen hatten." Die Freilassung des Künstlers auf Kaution ändere nichts an der Menschenrechtslage in China.