Vielleicht hat niemand den Papst so erwartet wie Franco. Er gehört zu den wenigen Dutzend Menschen, die Benedikt XVI. persönlich gegenübertreten dürfen bei seinem Besuch im mittelitalienischen Sulmona. Dabei ist dieser Sonntag für Franco, den Sizilianer aus Messina, schon deswegen ein Feiertag, weil er wieder einmal das Haus verlassen kann, in dem er die letzten 17 Jahre verbracht hat: das Gefängnis am Rande der Stadt.
Vollzugsanstalt Sulmona, ein sechs Hektar großer Komplex an der
Schnellstraße nach Norden, bekannt für seine hohe Suizidrate. Über den Metallzaun hinweg blickt man auf eine Klause an den Hängen des Monte Morrone. Es ist die Einsiedelei von Pietro del Morrone, dem späteren Papst Coelestin V. Eine Welt trennt die Mönchs- und die Knastzelle. Aber für Franco ist auch seine Haft ein geistliches Exerzitium: "Es ist eine Form der Reinigung", sagte er Radio Vatikan, ein Weg in die "innere Freiheit".
Der Papst scheint daran anzuknüpfen, als er am Vormittag zu den Gläubigen spricht. Im Mittelpunkt steht Coelestin V., dessen 800.
Geburtsjahr Sulmona gerade begeht. Benedikt XVI. mahnt zu einem einfachen Lebensstil, um "Geist und Herz freizuhalten". Wozu er die Katholiken auf der sommerlich heißen Piazza Garibaldi animieren will, ist die Suche nach Stille: Jene äußere und innere Stille, in der erst die Stimme Gottes, des Nächsten und der Schöpfung vernehmbar werde.
Sulmona hat nach dem Erdbeben 2009 und der Wirtschaftskrise genug Probleme, allen voran "das schreckliche Übel Arbeitslosigkeit", wie Bürgermeister Fabio Federico sagt. Und Sulmona liegt in einer Region, die zu einem Drittel aus Naturschutzgebieten besteht. Das kann ein Kapital oder ein Bremsklotz sein. Anknüpfend an den Einsiedler-Papst, nimmt Benedikt XVI. auf beides Bezug: "Ich ermahne alle, sich für die eigene Zukunft und die der anderen verantwortlich zu fühlen." Dazu gehöre "auch der Respekt und der Schutz der Schöpfung".
Am Morgen, bei der Anreise aus dem Vatikan, hatte der Papst im Helikopter einen Schlenker über die Mönchsklause seines Vorgängers gezogen. Für viel mehr Begegnung mit der Einsamkeit reichte es nicht: Empfang auf dem zum Landeplatz umfunktionierten Fußballfeld, dann die Messe. Anschließend geht es in ein Pastoralzentrum, das künftig ein Wohnheim für betagte Geistliche beherbergen und den Namen von Benedikt XVI. tragen soll. Dort Mittagessen mit Bischöfen, nach einer Ruhepause die Begegnung mit den ausgewählten Häftlingen sowie Gefängnismitarbeitern. Schließlich in der Kathedrale eine Rede an Jugendliche und ein Gebet in der Krypta vor den Reliquien des Dompatrons San Panfilo und des heiligen Coelestin V.
Dieser hatte mit Kirchenleitung im Grunde wenig im Sinn. Ein Konklave in Perugia wählte ihn in Abwesenheit am 5. Juli 1294 zum Papst, widerstrebend willigte er ein. Am 29. August erfolgte die Amtseinführung in L"Aquila. Aber als sich abzeichnete, dass die Sache nicht gut ausgehen würde, dankte er in einer kirchengeschichtlich beispiellosen Aktion am 13. Dezember ab. Sein Nachfolger Bonifaz XIII. gönnte ihm nicht einmal den Frieden, in die Einsiedelei bei Sulmona zurückzukehren. Er ließ ihn bei Frosinone festsetzen. Vorsichtshalber. Papst ist Papst, auch wenn er zurückgetreten ist.
Benedikt XVI. geht auf diese spektakuläre Episode nicht ein. Oder höchstens indirekt: als er von einem "kurzen und durchlittenen Pontifikat" seines Vorgängers spricht oder vor den Jugendlichen erörtert, ob im Eremitenleben nicht vielleicht eine Flucht vor Verantwortung steckt. Nein, antwortet der Papst: Einsiedeleien und Klöster seien "Oasen und Quellen geistlichen Lebens" zum Wohl der Kirche wie der ganzen Gesellschaft.
Seinem Vorgänger schenkt Benedikt XVI. viel Aufmerksamkeit. Schon im April 2009 hatte er den Schrein Coelestin V. in L"Aquila besucht und dort die weiße Wollstola niedergelegt, die er nach seiner Papstwahl
2005 auf die Schultern genommen hatte. Diesmal kehrte Benedikt XVI.
in den Vatikan zurück, ohne eine ähnlich Geste zu vollziehen.
Natürlich spricht das nicht gegen ein besonderes Band der Sympathie, das ihn mit dem Einsiedler-Papst verbindet. Möglicherweise ist er in dem Punkt mit dem Strafgefangenen Franco sehr einig: dass die innere Freiheit eines Eremiten keine Klause braucht, um gelebt zu werden.
Benedikt XVI. besucht seinen zurückgetretenen Vorgänger
Der Papst und der Einsiedler
Papst Benedikt XVI hat am Sonntag den Eremiten und kurzzeitigen Papst Coelestin V. als Vorbild für den modernen Menschen geehrt. Der Papst sagte in der italienischen Ortschaft Sulmona vor tausenden Gläubigen, Coelestin sei nicht von weltlichen Gütern abhängig gewesen. Auf dem Programm stand auch ein Treffen mit jugendlichen Straftätern.
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