Benediktinerpriorin Kohlhaas im Interview

Konsens für die Kirche?

Einen Konsens finden mit 30 Ordensschwestern? Das kann Schwester Emmanuela Kohlhaas als Priorin der Kölner Benediktinerinnen. Wie viel Demokratie für die Kirche gut wäre und weshalb sie sich für eine unverwüstliche Optimistin hält.

Schwester Emmanuela Kohlhaas, Priorin der Benediktinerinnen Köln / © Matthias Jung (KNA)
Schwester Emmanuela Kohlhaas, Priorin der Benediktinerinnen Köln / © Matthias Jung ( KNA )

Himmelklar: Sie haben ein Studium absolviert in Musikwissenschaft, Psychologie und vergleichenden Religionswissenschaften in Bonn – und danach dann gelehrt. Sie sind dabei im künstlerischen Bereich geblieben: Die Hochschule für Musik und Tanz in Köln war für sieben Jahre Ihr Wirkungsort. Ich würde behaupten, Sie haben den künstlerischen Zugang nach wie vor. Wie haben Sie die Kunstschaffenden in der Corona-Pandemie erlebt?

Sr. Dr. Emmanuela Kohlhaas (Priorin der Benediktinerinnengemeinschaft Köln): Ich habe jetzt in der Corona-Pandemie nicht mehr so viel Kontakt zu den Kunstschaffenden gehabt, weil ich ja, als ich Priorin wurde, 2010 im Wesentlichen aufgehört habe, an der Musikhochschule zu unterrichten und auch in diesem Bereich aktiv zu sein. Ich habe zu einzelnen Kontakt gehabt und habe auch noch Kontakt. Die haben schon sehr unter der Corona-Situation gelitten. Nicht nur, weil das für viele finanziell zum Problem wurde, sondern auch, weil das, was ganz im Zentrum ihres Lebens stand, auf einmal auf unabsehbare Zeit nicht mehr möglich war.

Himmelklar: Und für Sie persönlich? Vor zwei Jahren war die Situation noch ganz neu. Inzwischen leben wir schon mit dieser Pandemie. Wie gehen Sie damit um? Wie haben Sie diese einzelnen Phasen der Pandemie erlebt?

Sr. Emmanuela: Ich würde sagen, wir haben da ganz großes Glück gehabt, weil so eine Klosteranlage mit Garten eine Art Insel ist. Das heißt, wir konnten auch im ersten Lockdown alle Gottesdienste feiern, auch Ostern – mit allem, was dazugehört. Wir durften leider keine Gäste dazunehmen, aber wir durften selber feiern. Das haben wir schon als ein Privileg erlebt. Und dann letztes Jahr hat es uns voll erwischt. Die britische Variante hat bei uns so schnell Einzug gehalten, dass wir bis heute nicht wissen, wo sie hergekommen ist. Wir waren dann ein Krisenfall für das Gesundheitsamt, ein Cluster-Ausbruch.

Wir haben ganz großes Glück gehabt, dass niemand an Corona gestorben ist, obwohl wir alte Schwestern haben. Wir blicken da dankbar zurück. Ich bin heute auch dankbar, dass inzwischen alle geimpft und auch geboostert sind. Das gibt eine ganz andere Sicherheit, wenn Sie mit 30 und mehr Menschen in hoher Dichte sozusagen in einer WG wohnen. Das ist wie eine riesige Großfamilie. Da kann man nicht Abstand halten. Das funktioniert einfach nicht.

Himmelklar: Sie konnten Gottesdienst feiern, obwohl Sie dann ja eine relativ große Runde für die Corona-Regeln irgendwann waren. Wenn sich nur noch zehn Menschen treffen durften oder zwei, waren Sie ja natürlich drüber hinaus mit den 30. Sie leiten diese Gemeinschaft, seit zwölf Jahren haben Sie diese Ordensschwestern, ich nenne es jetzt mal "unter sich". Aber eigentlich sehen Sie das nicht so, oder?

Sr. Emmanuela: Ich sehe das tatsächlich nicht so. Ich sehe das in einem großen Gleichgewicht auf Augenhöhe. Erstens bin ich von dieser Gemeinschaft gewählt. Was man sonst in der Kirche nicht so für die Normalität hält, ist in diesem Fall völlig normal. Wir wählen seit dem 17. Jahrhundert unsere Leitung auf Zeit – in völlig freier Wahl. Es gibt da ein Kräftegleichgewicht. Die Schwestern, vor allen Dingen die Versammlung des Kapitels, das sind die stimmberechtigten Schwestern, und stimmberechtigt ist jede Schwester, die sich auf Lebenszeit an die Gemeinschaft gebunden hat, die hat in allen wesentlichen Belangen die Entscheidungskompetenz. Da wird abgestimmt, teilweise geheim, teilweise einfach mit Handzeichen. Und es ist auch ganz genau festgelegt, wo absolute oder Zweidrittelmehrheiten gebraucht werden.

Himmelklar: Diese demokratischen Strukturen sind einfach in dem Benediktinerorden schon sehr lange verankert. Sind das tatsächlich widersprüchliche Vorgehensweisen zur katholischen Kirche oder könnte man die da auch etablieren?

Sr. Emmanuela: Unsere Strukturen sind aus der spätantiken Demokratie hervorgegangen. Der Benediktinerorden ist um das Jahr 500 herum entstanden. Da sind wir noch relativ demokratisch, nicht im heutigen Sinne, sondern im damaligen Sinne unterwegs. Da ist das vollkommen normal, dass es diese Mitbestimmung gibt. In der Geschichte hat es dann eine andere Entwicklung hin zum Absolutismus genommen. Und ich glaube, es ist einfach wichtig, dass wir uns in der Kirche bewusst machen: Die heutige Form ist eine historisch gewachsene Form.

Wenn ich ins Evangelium schaue oder mir vorstelle, dass Jesus mit seinen Jüngern zu Tisch gelegen hat, dann ist das einfach ein ganz anderer historischer Rahmen, als wenn wir dann später eine Eucharistiefeier mit dem Rücken zum Volk haben. Wenn die damals Brot gebrochen haben oder eben auch das Paschalamm geteilt haben, dann ist das ein anderes Eucharistieverständnis, als wenn wir heute mit Hostien, die vorgefertigt werden, feiern. Das ließe sich jetzt beliebig verlängern. Auch das Priesterbild, das gibt es so in der frühen Kirche gar nicht. Es dauert, bis Ämter und Funktionen entstehen. Es dauert, bis Kirchen da sind. Es dauert, bis Strukturen entstehen – und die wandeln sich durch die Geschichte. Wir sind jetzt in unserem Kirchenbild ziemlich geprägt vom 19. Jahrhundert. Und da schwingt noch in gewissen Bereichen ziemlich stark ein absolutistisches Verständnis mit.

Himmelklar: Jetzt sind wir im 21. Jahrhundert angekommen und stecken in einer sehr großen Kirchenkrise. So betiteln Sie es ja auch. Wenn wir dabei das Mitspracherecht von allen im Kopf behalten, vielleicht auch die Wahlen, die bei Ihnen im Kloster Normalität sind, wissen wir auch: Wenn jeder oder jede die Möglichkeit hat, mitzusprechen, dann weiß auch jeder besser, wie es gehen könnte und was besser gemacht werden müsste – oder nicht?

Sr. Emmanuela: Ganz einfach ist das nicht. Das fängt ja schon in der Familie oder in der Partnerschaft an. Wer setzt sich wie durch? Welche Argumente tragen, überzeugen den anderen oder überzeugen ihn nicht. Ich persönlich finde das Projekt, was Papst Franziskus da gestartet hat mit der Weltsynode, ganz fantastisch, weil es genau das ist, um was es geht: Alle mal erst dahin zu bringen oder ihnen Raum zu geben, sich zu äußern und zu Gehör zu kommen, und dann miteinander etwas zu finden, was im Optimalfall ein Konsens ist. Wir machen in der Gemeinschaft die Erfahrung, wenn es um tragfähige Lösungen geht: Je wichtiger die Entscheidung und das Thema ist, mit dem wir uns befassen, desto wichtiger ist, dass wir so lange reden, bis wir Konsens gefunden haben. Und wir merken: Mit Training schaffen wir das immer besser!

Ich habe da ein ganz amüsantes Beispiel für Sie: Wir brauchten neue Gardinen für unseren Versammlungsraum und haben da eine Frau, die einen Deko-Betrieb hat, bestellt – und die hat natürlich ein paar Hundert verschiedene Proben mitgebracht. Ich sehe noch die entsetzten Augen vor mir, als ich sagte: So, jetzt kommen gleich 30 Schwestern und wir entscheiden jetzt gemeinsam, welche Vorhänge hier aufgehängt werden. Ich glaube, die stellte sich vor, dass das jetzt Wochen und Monate dauert und war total fasziniert, als wir in zehn Minuten eine Konsensentscheidung gefällt haben.

Himmelklar: So kann es auch gehen …

Sr. Emmanuela: So kann es manchmal gehen – und das ist auch Trainingssache. Darin sehe ich auch den Schatten der Demokratie, wir meinen, eine Seite muss die andere überstimmen. Da ist ja auch immer ein Stück Machtkampf hinter. Noch besser ist natürlich, wir schaffen es, eine Lösung zu finden, die letztlich eine Win-Win-Situation für alle bedeutet.

Himmelklar: So läuft es also bei Ihnen. Das Allheilmittel für die katholische Kirche, würde ich sagen, gibt es nicht so richtig. Sie haben aber einen Vorschlag …

Sr. Emmanuela: Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich einen konkreten Vorschlag habe. Ich finde, wie gesagt, das ist ein sehr richtiger und guter Weg, den Papst Franziskus da versucht anzustoßen. Dass das nicht schnell geht, dass das unendlich komplex ist, liegt in der Natur der Sache. Ich würde sagen, die Richtung stimmt. Und sie stimmt auch in einem ganz tief spirituellen Sinne, weil ich davon überzeugt bin, dass jeder und jede Getaufte und Gefirmte den Heiligen Geist empfangen hat. Und wenn ich daran glaube, dass es einen Heiligen Geist gibt, der uns führt, und wir versuchen dann miteinander in dieser Suche nach dem Wirken und der Stimme des Heiligen Geistes in ein Gespräch zu kommen, dann habe ich die berechtigte Hoffnung, dass wir Lösungen finden, von denen wir heute noch gar nicht träumen können.

Himmelklar: Ein Gegenargument ist ganz oft: Na ja, wir sind eine Weltkirche. Wir können das nicht für Deutschland entscheiden oder hier irgendwie plötzlich neue Ideen spinnen, so wie beim Synodalen Weg. Ist die Weltbischofssynode der nächste Schritt – und vielleicht sogar eine hoffnungsvolle Zukunft, die da der katholischen Kirche blüht?

Sr. Emmanuela: Ich würde sagen, das widerspricht sich nicht. Ich glaube, die Fragen, die der Synodale Weg in Deutschland stellt, das sind die Fragen, die hier bei uns brennen. Es wäre der falsche Weg, die zurückzunehmen um einer Einheit willen, die ja etwas Abstraktes ist. Die Einheit muss letztlich was Konkretes sein. Das heißt, das Anliegen jeder Gruppe, jeder Nationalität, jeder Farbe, die da drinnen ist, muss Raum bekommen. Ich sehe darin überhaupt keinen Gegensatz, sondern ich würde mir wünschen, dass das im Miteinander geht. Dass das weder reibungslos noch schnell gehen kann, halte ich für sehr normal. Trotzdem finde ich es wichtig, dass es passiert.

Himmelklar: Man hört dabei, auch als Sie gerade über die Konsensfindung gesprochen haben, schon raus: Sie sind auch Coach und Supervisorin. Das heißt aber ja nicht, Sie haben jetzt eine super Vision für die Zukunft. Aber vielleicht haben Sie eine Prognose und können auch mal den Ist-Zustand der katholischen Kirche einordnen: Wir haben zu kämpfen mit vielen Anfeindungen, aber auch berechtigter Kritik, wenn es zum Beispiel um die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche geht. Das interessiert die Menschen, das interessiert auch die Medien und immer wieder auch die Gerichte. Können wir da trotzdem zu unserem Glauben stehen und weiter Christin und Christ sein?

Sr. Emmanuela: Ich habe überhaupt kein Problem, zu meinem Glauben zu stehen und halte es für eines der ganz großen Problemfelder der Kirche im Augenblick, dass der Glaube an sich, die Botschaft des Evangeliums, der persönliche Glaube immer weiter auseinanderklafft mit dem, wie Menschen das System Kirche erleben und auch die Schatten des Systems Kirche. Es ist sicher absolut überfällig, dass das System Kirche sich den eigenen systemischen Schatten stellt und versucht, sie zu verarbeiten. Aber die sind natürlich auch nicht das Ganze.

Die Botschaft des Evangeliums ist für mich dadurch unangefochten und hat für mich auch nichts an Leuchtkraft deshalb verloren. Wir müssen uns aber damit auseinandersetzen und versuchen, jetzt auf der institutionell-systemischen Ebene Antworten zu finden, wie sich Dinge grundlegend verändern lassen. Nur Worte und Betroffenheitsadressen helfen nicht mehr weiter.

Himmelklar: Um mich herum erlebe ich einige Gläubige, die zweifeln, die sich die Frage der Zugehörigkeit zur Institution Kirche ganz persönlich stellen. Können Sie nachvollziehen, wenn diese Leuchtkraft, von der Sie sprechen, in der momentanen Situation nachzulassen scheint?

Sr. Emmanuela: Ich bin sehr betroffen darüber. Es ist natürlich in gewisser Weise ein sehr deutsches Problem, weil die Zugehörigkeit zur Kirche mit der Kirchensteuer und bestimmten staatlichen Dingen verbunden ist. In anderen Ländern kann ich mich in einer Krise distanzieren und nachher problemlos zurückkommen. Ich verstehe schon die Menschen, die sagen: "Ich will dieses System, was jetzt so viel Schatten zeigt, nicht auch noch finanziell und aktiv unterstützen."

Ich gehöre tatsächlich zu denen, die glauben, dass es vielleicht für die deutsche Kirche sehr viel besser wäre, es gäbe keine Kirchensteuer. Eine arme Kirche oder eine ärmere Kirche wäre vielleicht offener für Erneuerung und Vertiefung. Denn weltweit sieht das anders aus. Da, wo Kirche ohnehin in der Diaspora ist, in der Minderheit ist, bedrängt ist, tut sie sich leichter, auf das Wesentliche zu schauen. Und wir verlieren uns, glaube ich, da oft sehr in Äußerlichkeiten. Ich verstehe, dass man sich daran so wund reiben kann, dass Menschen sagen: "Ich halt's nicht mehr aus". Diesen Menschen würde ich von Herzen wünschen, dass es ihnen auf welchem Weg auch immer gelingt, sich das zu bewahren, was ihr Leben spirituell trägt. Dass sie nicht ihren spirituellen Boden verlieren, weil sie sich wund reiben am Versagen des Systems und dass sie irgendwo etwas finden, das sie weiter trägt. Denn das sind zwei völlig verschiedene Ebenen.

Wichtig finde ich, zu schauen, wo ist denn die Resilienz im spirituellen Bereich und wie kann die gestärkt werden. Das hat ganz viel mit Hoffnung zu tun. Gerade die Bibel ist an und für sich schon ein unglaublicher Schatz. Ich glaube, dass sie ein Buch der Resilienz ist. So unmögliche Geschichten, wie sie manchmal erzählt, sie erzählt eigentlich immer den Ausweg. Da kann ich für mein Leben ganz viel herholen. Deshalb verstehe ich auch, warum die Bibel bis heute der völlig unangefochtene Weltbestseller aller Zeiten ist. Ich glaube überhaupt, dass alle Religionen einen ganz hohen Wert an dem Punkt haben, wie Menschen spirituelle Resilienz finden können, wie sie dieses Fundament haben können im Leben, dass da etwas ist, was mir über das Greifbare hinaus Kraft gibt und Wege zeigt. Das halte ich für so wichtig, dass ich auch manchmal denke: Wir sollten uns in der Kirche nicht so viel zanken. Wir sollten aufpassen, dass da nicht ständig die Probleme eskalieren. Wir sollten die Friedensbotschaft ernster nehmen – die Sache mit der rechten und der linken Wange und dem Frieden, sogar den Feinden gegenüber. Ich glaube, da sollten wir noch mal gut ins Evangelium schauen und von dort aus, ohne irgendetwas zu beschönigen, versuchen, aufeinander zuzugehen und Lösungen zu suchen.

Himmelklar: Ich möchte noch mit Ihnen über Ihre Ordensgemeinschaft sprechen, die ja doch für unsere heutigen Verhältnisse und unsere Zeit relativ groß ist. Sie haben in den letzten Jahren auch eher Zulauf gehabt und damit Schlagzeilen gemacht, zum Beispiel 2018 schon einmal, 2021 wieder. Es ist so, dass sich Menschen aufmachen, bei Ihnen im Orden leben und die Regel Benedikts befolgen wollen – ein Halt in vorgegebenen Linien. Und das bei allem Wunsch nach ich nenne es mal Freiheit, säkularem Leben und Unabhängigkeit. An Sie wenden sie sich dann trotzdem und möchten bei Ihnen in die Gemeinschaft eintreten. Wie erklären Sie sich diese Beliebtheit? Was macht Ihr Leben in der Gemeinschaft aus?

Sr. Emmanuela: Ich fange mal mit der Freiheit an. Das ist ja eine der ganz großen Fragen: Was ist Freiheit? Freiheit "zu" was oder Freiheit "von" was? Wir leben ja auch in der Gesellschaft in doch zum Teil sehr engen Bindungen. Man "muss" und "es ist so" und man muss dies und man muss das. Der Weg der Berufung, der speziellen Berufung, sei es in einem Orden oder in was auch immer, muss für mich auch immer ein Weg der Freiheit sein. Wenn ein Mensch da nicht an Lebendigkeit und Freiheit wächst, muss gefragt werden: Ist die- oder derjenige auf dem richtigen Weg?

Und jetzt habe ich schon das Wort Berufung gebraucht. Berufung ist etwas Unverfügbares. Und deshalb mag ich in diesem Bereich kein Erfolgsdenken. Neues Leben ist immer unverfügbar. Wenn ich will, dass neues Leben entsteht und wächst, dann muss ich was dazutun und kann auch immer was dazutun, aber dass es wirklich geschieht, bleibt letztlich immer ein Geschenk. Und es geht darum, das Geschenk dann zu hüten. Wir machen die Erfahrung, dass gerade in den letzten Jahren Frauen verschiedener Lebensalter aus ganz verschiedenen Kontexten den Weg zu uns gefunden haben. Und die Frage, warum jemand kommt, ist nicht dieselbe, warum jemand bleibt.

Ich freue mich über das wachsende Leben und versuche meinen Beitrag zu leisten, es wenigstens nicht im Wachstum zu hindern, es nach Kräften zu fördern. Und was daraus wächst, wird die Zeit zeigen. Ich halte das eher für einen Schatz, den wir zu hüten haben, so wie eine Art Garten, der gepflegt werden will und nicht wie etwas, das die Antwort auf irgendein Richtigmachen oder ein Erfolg wäre.

Himmelklar: Das aber mitten im Erzbistum Köln, das in der jüngsten Zeit eher gezeigt hat, dass sich viele gläubige Menschen dem nicht mehr zugehörig fühlen und austreten. Widerspricht sich das in Ihren Augen oder gibt es da einen Zusammenhang?

Sr. Emmanuela: Ich würde sagen, weder noch. Zum einen ist es ja tatsächlich so: Wir sind als ein Kloster päpstlichen Rechtes sehr autonom. Wir sind eine Art Insel mittendrin. Wir erleben zunehmend, dass wir gerade als Frauenorden von vielen Menschen gar nicht mehr in dem Maße mit dieser Kirche identifiziert werden, die so als eine Bischofskirche erlebt wird, also mit einer bestimmten Form von Institution verbunden ist. Es wird positiv wahrgenommen: Da sind mal nur Frauen, da haben Frauen alles in der Hand. Und dann – mit einer gewissen Befriedigung: Aha, es funktioniert.

Es funktioniert auch in Männerklöstern. Es funktioniert auch schon seit 1500 Jahren. Ich glaube, das Besondere des Benediktinerordens ist, dass er in seiner ganzen Geschichte mit einem Modell umgeht, das relativ autonome, kleinere Systeme birgt, nämlich das Einzelkloster. Das hat sehr viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln, sich zu entfalten, eigene Formen zu entwickeln. Da gibt es wenig Hierarchisches von oben. Und unser Abtprimas oder bei den Frauen die Moderatorin der Frauen, die übrigens tatsächlich "Moderatorin" heißt in ihrer Rolle, die haben in dem Sinne keine Machtbefugnisse. Die bestimmen nicht, sondern die Systeme sind sehr gut miteinander vernetzt. Wir sind im weltweiten Dialog, aber wir dürfen sehr verschieden sein.

Das könnte für mich eine Lösung sein für die Weltkirche: Dass die verschiedenen Ortskirchen, ja sogar die unterschiedlichen Gemeinden und kleinen Systeme oder Glaubensgruppen ihre eigenen Farben, ihre eigenen Formen haben dürfen und man gut miteinander im Dialog ist, ohne einander zu verdächtigen. Weder in die Richtung "das ist ja nicht mehr katholisch" noch in die Richtung "die sind ja total rückwärtsgewandt".

Himmelklar: Diese Vorstellungen, in die Sie uns gerade Einblick geben, haben Sie unter anderem ja auch in einem Buch zusammengefasst. Das eine ist mit Thomas Frings zusammen entstanden und heißt "Ungehorsam: Eine Zerreißprobe." Und jetzt dann das Buch "Die neue Kunst des Leitens: Wie Menschen sich entfalten können" im Herder Verlag. Das sind keine Anleitungen, die man befolgen könnte und alles wird gut. Das wäre schön und gleichzeitig zu einfach. Mit welcher Motivation haben Sie diese beiden Bücher herausgegeben?

Sr. Emmanuela: Es sind zunächst mal zwei ganz verschiedene Bücher. Das erste Buch setzt an der Bibel an, nämlich an dieser ganz furchtbaren Geschichte, dass Gott Abraham auffordert, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern. Diese Geschichte spielt ja in der Spiritualität eine ganz große Rolle. Ich habe mich da herausfordern lassen von Thomas Frings, der bei uns eine Predigt gehalten hat. Da hat er den Isaak und den Abraham reden lassen. Ich habe ihm hinterher eine Mail geschickt und habe gesagt: Moment mal, wo ist hier die Sara? Dann kam er wieder auf mich zu und sagte: Lass uns das doch mal richtig ausgestalten. Das Buch ist zum Teil eine Art großer Bibliolog. Wir schlüpfen in die Rollen und erzählen aus eigener Perspektive diese Geschichte nach.

Gleichzeitig haben wir dann gemerkt: Gerade die Missbrauchskrise schrie danach, diese Geschichte auf die aktuelle Situation hin lesen zu lernen und zu schauen, wo wir da stehen. Das war für mich eine ganz abenteuerliche Reise. Ich würde sagen, das ist für mich ein ganz tief spirituelles Buch und ich habe selber sehr, sehr viel dabei gelernt, nämlich: Was heißt Opfer? Was heißt Gehorsam? Was heißt dann auch Freiheit? Die kommt darin auch vor.

Das andere Buch ist aus einem Telefonat entstanden, wo ich gefragt wurde: Kannst du nicht auch mal ein Buch über Leitung schreiben? Und dann habe ich mich ziemlich spontan hingesetzt, ein Inhaltsverzeichnis skizziert und habe dann im letzten Sommer, als ich Zeit hatte, einfach mal meinen eigenen Lernprozess als Geschichte aufgeschrieben. Es wird viel erzählt. Es ist in dem Sinne kein Ratgeber, sondern ein Sachbuch der erzählenden Art. Ich mag das selber gern, wenn Menschen von ihrer Erfahrung erzählen. Und ich hoffe, dass da viele Menschen ein Stück Inspiration mitnehmen können, wo sie selber entweder leiten, es gibt ja viel Leitung im Kleinen. Das gilt in der Familie, im Fußballverein, im Chor, im Karnevalsverein. Überall gibt es Menschen, die leiten. Und umgekehrt hoffe ich, dass es ihnen auch hilft, mit Situationen umzugehen, wo sie mit Leitung unzufrieden sind und vielleicht so den richtigen "pack an" zu finden, in einen guten Dialog zu kommen. Das würde ich mir von diesem Buch wünschen.

Himmelklar: Sie leiten selber. Wir haben unser Gespräch damit angefangen, dass wir auf der künstlerischen und musikalischen Ebene waren. Hilft Ihnen das auch persönlich nach wie vor – auch heute?

Sr. Emmanuela: Oh ja, weil ich sehr tief verinnerlicht habe, was das für ein Gefühl ist, zu dirigieren. Ich habe ja an der Hochschule für Musik und Tanz hier in Köln unter anderem das Dirigat des gregorianischen Chorals unterrichtet. Das ist etwas sehr Leichtes, fast Tänzerisches, weil man mit der Hand sehr differenziert anzeigt, was die älteste Notation Europas, nämlich die Neumen in Grafien irgendwo angezeigt haben, lange bevor es die typischen Noten gibt, die man heute verwendet.

Ich habe sehr tief in mir dieses Gefühl, miteinander da zu stehen und zu singen. Diejenige oder derjenige, die dirigieren, singen selber mit. Das Ziel ist es dabei nicht so wie in einem Kommando zu zeigen "hier geht es lang", sondern sozusagen den gemeinsamen Ausdruckswillen, das gemeinsame Hören und sich Hineinfühlen in die Musik in eine physische Gestalt zu bringen und damit noch mal tiefer zu integrieren. Das ist für mich bis heute ein ganz kostbares Bild des Leitens. Und das hat für mich heute noch immer ganz viel mit Tanz zu tun.

Himmelklar: Können wir das Bild übertragen auf die Weltbischofssynode?

Sr. Emmanuela: Das wäre wunderbar, wenn da diese Leichtigkeit hineinkäme und es gelänge, im gemeinsamen Ausdruckswillen und in gemeinsamer Sehnsucht. Ich glaube daran, dass die allermeisten Menschen, die sich überhaupt auf den Weg machen, die versuchen, die christliche Botschaft zu leben und zu verkündigen, versuchen das ihnen Bestmögliche zu geben. Und wenn das zu so einer Art Symphonie wird, zu einem Einklang, das wäre natürlich ganz wunderbar – auch in dem Wissen, dass es eine Vision ist.

Himmelklar: Schwester Emmanuela, was gibt Ihnen bei alldem Hoffnung?

Sr. Emmanuela: Ich glaube, ich bin eine unverwüstliche Optimistin. Meine Hoffnung kommt zuletzt ganz schlicht aus dem Glauben, dass da immer noch einer ist, der alles trägt, der bedingungslos "Ja" zu mir sagt, der in unserer Zeit weiterwirkt. Ich kann da ganz viel mit dem Heiligen Geist anfangen. Ich glaube, da ist eine große, inspirierende Kraft, die ja im Glauben der Kirche Person ist. Ich glaube, da ist ein unbedingtes "Ja" zu jedem Menschen. Das macht mir nach wie vor Mut – und ich glaube, dass genau dies mein persönliches Leben trägt.

Ich wünsche jedem Menschen, die Erfahrung, dass eben genau das trägt, egal wo es gerade knirscht und egal wo gerade die Probleme sind. Die gibt es im Leben immer. Hoffnung heißt, dass da etwas ist, was größer ist als alles, was mich, die Hoffnung und das Ganze irgendwo infrage stellt. Zu glauben, dass die Ressource an Leben größer ist als alles, was dieses Leben bedrängt.

Das Interview führte Katharina Geiger.

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