Kardinäle entführen eine 15-Jährige, halten sie an wechselnden Orten und zuletzt im Vatikan gefangen, schmieden Ränke mit Geheimdiensten. Ein verstörendes Szenario tut sich seit Montag für italienische Zeitungsleser auf. Es ist eine neue Version des Schicksals von Emanuela Orlandi, 1983 verschwundene Tochter eines Vatikan-Angestellten.
Der Fall Orlandi gehört zu den spektakulärsten Kriminalfällen Italiens. Am 22. Juni 1983 kehrte die Jugendliche nicht nach Hause zurück; bald meldeten sich angebliche Entführer, die eine Freilassung des türkischen Papstattentäters Ali Agca forderten. Später hieß es, das Mädchen sei von der Magliana-Bande entführt, kurze Zeit später getötet und im Küstenstädtchen Torvaianica einbetoniert worden.
Viele Fragen offen
Bis heute sind viele Fragen offen. Die italienische Justiz nahm im Mai 2012 nochmals Ermittlungen auf, nachdem in der Hauskirche der römischen Opus-Dei-Universität im Grab des Chefs der Magliana-Bande, Enrico De Pedis, fremde Knochen gefunden wurden. Vermutungen, es handele sich um Überreste Orlandis, erwiesen sich als falsch.
2015 schloss die Staatsanwaltschaft die Akten. Nicht jedoch die Familie Orlandi. Sie unterhält eine Facebookseite, auf der sie volle Wahrheit fordert. "Die Mauer bricht ein", postete Emanuelas Bruder Pietro am Montag.
Zwei Zeitungen, "La Repubblica" und der "Corriere della Sera", brachten an diesem Tag eine Vorabveröffentlichung von Emiliano Fittipaldi. Der Journalist und Autor zeichnete schon mehrfach ein skandalträchtiges Bild von Filz und Korruption im Vatikan. Was er jetzt von einem Informanten erhalten haben will, ist eine Kostenaufstellung des Vatikanstaates "über Aktivitäten betreffend die Bürgerin Emanuela Orlandi".
Aufgelistet werden angebliche Auslagen für die Entführung und Unterbringung Orlandis in der Chapman Road 176 in London, für diverse investigative Maßnahmen, Medienkontakte und das Legen einer falschen Fährte. Eine Gynäkologin stellte eine Rechnung, auch Reisekosten des Leibarztes von Johannes Paul II., Renato Buzzonetti, und des damaligen vatikanischen Polizeichefs Camillo Cibin erscheinen in der Bilanz. Alles in allem 483 Millionen Lire, in heutiger Währung 250.000 Euro.
Eine Geisel des Vatikan?
Das Beunruhigendste: Der letzte Posten datiert auf Juli 1997 mit dem Stichwort "Verlegung in den Vatikanstaat". Demnach wäre die dann 29-Jährige dorthin zurückgekehrt, wo ihr Vater Ercole als einfacher Bediensteter der Präfektur des Päpstlichen Hauses arbeitete. Orlandi, eine Geisel des Vatikan?
Abenteuerlich ist auch die Geschichte des Dokuments. In der Nacht zum 30. März 2014 wurde in die Präfektur für wirtschaftliche Angelegenheiten eingebrochen; etwas Geld verschwand, vor allem aber Akten aus einem von zwölf Sicherheitsschränken im vierten Stock. So gibt es Fittipaldi Monsignore Alfredo Abbondi wieder, Bürochef in der Revisionsabteilung. Ende April kam ein Teil der Akten zurück, in einem anonymen Umschlag. Darunter, so Fittipaldi, auch die mysteriöse Liste.
Sekretär der Wirtschaftspräfektur war damals der spanische Priester Lucio Vallejo Balda. Papst Franziskus hatte ihn kurz zuvor in eine Kommission berufen, die die Wirtschafts- und Finanzstruktur des Vatikan unter die Lupe nehmen sollte. Ein Mann mit Zugang zu vielen Informationen. Wenig später wurde Vallejo die Schlüsselfigur in einem Skandal um Korruptionsvorwürfe. Ein Vatikangericht verurteilte ihn im Juli 2016 für die Weitergabe vertraulicher Akten - unter anderem an Fittipaldi.
Zahlreiche Merkwürdigkeiten
Manches ist merkwürdig an der jetzt veröffentlichten, an Kardinal Giovanni Battista Re adressierten Liste. Es fängt an mit der Anrede "Sua Riverita Eccellenza", die stilistisch eher ins 18. Jahrhundert gehört. Als Absender ist Kardinal Lorenzo Antonelli angegeben; und Vatikanjournalist Andrea Tornielli fragte umgehend, wie ein altgedienter Kirchendiplomat sprachlich so danebengreifen könnte.
Auch wäre es etwas unbedarft vom Vatikan gewesen, 1998, als die italienische Staatsanwaltschaft noch im Fall Orlandi ermittelte, etliche Buchhaltungsmitarbeiter die Entführungsquittungen sortieren und abheften zu lassen. Vollends kühn scheint es, dass die Kosten für eine Geheimoperation kriminellen Inhalts über die offizielle Rechnungsstelle des Heiligen Stuhls abgewickelt worden sein sollen.
Wenn Fittipaldis Andeutungen wahr wären, so schreibt Tornielli in seinem Blog, dann müsste der Vatikan nicht reformiert, sondern einfach dichtgemacht werden. Kardinal Giovanni Battista Re, zur fraglichen Zeit hoher Funktionär im Staatssekretariat, erklärte im italienischen Fernsehen, er habe das Dokument nie gesehen. Vatikansprecher Greg Burke nannte es schlicht "lächerlich".