Wenn die Medizinerin Angelika Bier das Grundstück der alten Schule in Staaken am westlichen Berliner Stadtrand betritt, ist sie sofort von Kindern und Jugendlichen umlagert. Das ist kein Wunder, denn ohne die frühere Professorin an der Berliner Charite und ihren vor zehn Jahren verstorbenen Gatten würde keines der Kinder heute seine Freizeit auf dem Gelände verbringen. Durch das Engagement der beiden Mediziner ist aus einem verwahrlosten Gebäude "Jonas Haus" entstanden, ein Kinder- und Jugendtreff für die Jungen und Mädchen aus den umliegenden Hochhausvierteln, die zu den sozialen Brennpunkten Berlins gehören.
Werte vermitteln
Täglich erhalten Kinder aus der Nachbarschaft hier ein warmes Mittagessen, es gibt eine Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfeangebote. Eine Verkehrstrainingsstrecke findet sich ebenso auf dem Grundstück wie ein Kletterparcours, eine Töpferei oder ein Raum mit Computern, an denen Bewerbungstrainings stattfinden. Und jeden Tag gibt es "Jonas Herz", eine Art Andacht, in der die Kinder und Jugendlichen zum Beispiel Geschichten aus der Bibel hören. "Das heißt so, weil es das Herz unseres Projekts ist", sagt Bier, die zur evangelischen Berliner Domgemeinde gehört. "Wir wollen niemanden bekehren, aber wir wollen Werte vermitteln."
An manchen Nachmittagen findet in "Jonas Haus" ein arabisches Fest statt: Die Kinder können zusammen mit Müttern aus der Nachbarschaft arabische Spezialitäten kochen, in einem Workshop wird der Volkstanz "Dabke" angeboten. Es gibt Schminken mit Henna-Farbe und Verkleidungen mit arabischen Kostümen. "Wir haben Kinder mit elf verschiedenen Muttersprachen im Haus", sagt die Ärztin. Während der Flüchtlingskrise sei "Jonas Haus" zudem zu einer Erstunterkunft für unbegleitete Minderjährige geworden. "Da gab es eines Abends einen Anruf, ob wir das machen können, und ein paar Stunden später waren sie da", sagt Angelika Bier.
Für die Ärztin und ihre 24 Mitarbeiter war das eine ziemliche Herausforderung - aber eine, die sie erfolgreich meisterten. Die Kinder und Jugendlichen waren schwer traumatisiert; mehr als einmal war ein Besuch in der Notaufnahme der Psychiatrie notwendig. Doch die Kultur von "Jonas Haus" färbte schnell auf die Jugendlichen ab. "Wir hatten einen hier, der erkennbar gar nicht minderjährig war", sagt die Ärztin. "Ich habe ihm das offen ins Gesicht gesagt: Du musst das zugeben, wir werden dich nicht im Stich lassen." Womit bei der Berliner Ausländerbehörde offensichtlich niemand rechnete: Der Jugendliche tat es. Und wird in seinem Asylverfahren weiter von einem Anwalt betreut, der mit "Jonas Haus" zusammenarbeitet.
Interreligiöse Projekte
Warum sich die Ärztin so engagiert? "Ich habe den Eindruck, dass Gott es möchte", sagt Bier, die für ihr Engagement sowohl das Bundesverdienstkreuz als auch die Ehrennadel des Bezirks Berlin-Spandau erhalten hat. Wirklich geplant hatte sie keines ihrer Projekte. "Ich mache das, was mir vor die Füße gelegt wird."
Doch die Medizinerin legt Wert darauf, dass alles, was in "Jonas Haus" passiert, immer mit einem Höchstmaß an Professionalität geschieht. Deshalb sind gemeinsame Projekte mit der Evangelischen Hochschule Berlin, der Katholischen Hochschule für Sozialwesen und der Freien Universität längst zum Standard geworden. Aus dem vor über zehn Jahren gegründeten privaten Projekt der beiden Ärzte ist ein anerkannter Träger der Kinder- und Jugendhilfe und ein Mitglied des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz geworden.
Ein Zuhause für Flüchtlinge
Das Flüchtlingsthema indes hat "Jonas Haus" nicht losgelassen. Auf einem neben der alten Dorfschule befindlichen Grundstück soll in den nächsten Jahren ein Sozialcampus entstehen: "Wir planen Wohngruppen für geflüchtete und nicht-geflüchtete Kinder", sagt Angelika Bier.
Und auch eine eigene Kindertagesstätte soll irgendwann auf dem Gelände folgen. Bedarf an sozialer Arbeit für Kinder und Jugendliche jedenfalls gibt es in Berlin-Staaken noch genug.
Benjamin Lassiwe