Die Hocker sind ebenso schlicht gehalten wie der Altar und der Ambo; dafür hinterlässt die Wandverkleidung einen nachdrücklichen Eindruck: Auf hundert Quadratmetern sind in feinstem Blattgold Bibelverse in 17 Sprachen hinterlegt. Menschen wie Christoph Schumacher nennen diesen Raum "einen besonderen Ort".
Schumacher ist regelmäßig hier. Alle zwei Wochen geht er in den "goldenen Raum" - immer dann, wenn sein Verein, die Hertha BSC, ein Heimspiel absolviert. Eine halbe Stunde vor Anpfiff fährt er mit dem Lift in die "Ebene-4" des Berliner Olympiastadions. Hier befindet sich die Kapelle. Seit fünf Jahren spielt der 38-jährige Religionslehrer in der Stadionkapelle Orgel oder begleitet den Gottesdienst auf seiner Gitarre mit "modernen, christlichen Liedern", wie er sagt. "Es kommen immer wieder Menschen, die nichts mit Religion zu tun haben - und sie bleiben."
Wie etwa Janette und Julia. Die beiden Fußballfans waren vor ein paar Monaten viel zu früh vor dem Anpfiff im Stadion und sind zufällig in der Kapelle gelandet. "Wir sind einmal beim Gottesdienst gewesen und kommen seitdem regelmäßig alle zwei Wochen", sagt die 25-jährige Janette. "Es ist wie ein Glücksbringer, denn seitdem spielt die Hertha auch besser", schmunzelt sie.
Viele ökumenische Gottesdienste
Dabei gehe es bei den Gottesdiensten vor Anpfiff keineswegs darum, für ein Team oder einen bestimmten Spielverlauf zu beten, betonen Bernhard Felmberg und Gregor Bellin. "Wir beten hier nicht um Erfolg. Sonst wären wir nie abgestiegen", lacht Bellin. Zusammen mit Felmberg, dem Sportbeauftragten der evangelischen Kirche, predigt der Ständige Diakon alle 14 Tage vor einigen Dutzend Fußballfans. "Keiner in Berlin feiert regelmäßiger ökumenischen Gottesdienst als wir", stellt Felmberg fest. "Allein Hertha hat 34 Heimspiele", zählt er auf. Hinzu kommen Andachten vor Länderspielen oder dem DFB-Pokalfinale.
Es war 2006, das Jahr des "Sommermärchens", kurz vor der Fußball-WM in Deutschland, als die Stadionkapelle in den Katakomben des 1936 erbauten Olympiastadions geweiht wurde. Neben Berlin haben nur die Stadien auf Schalke, in Frankfurt und seit Ende 2015 auch in Wolfsburg einen Andachtsraum. In den zehn Jahren habe sich in Berlin "eine Gemeinde am besonderen Ort mit hoher Kontinuität gebildet", erzählt Feldberg, der Ideengeber der Kapelle war. Neben heimischen Fans kommen auch Anhänger der Gastclubs. "Für beide Gruppen ist der christliche Glaube ein stark verbindendes Element", sagt der Sportpfarrer.
Das zweite Element, das die Menschen in dem rundlichen Raum verbindet, ist der Rasensport. Wenn die Sportler auf das Spielfeld gehen, trennt sie nur eine Glastür von der Kapelle. "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" Der Matthäus-Vers steht außen an der ziegelroten Außenwand geschrieben. In den Predigten geht es auch mal um den Sport, "um den sportlichen Erfolg, aber auch, dass man nicht alles diesem unterordnet soll", erklärt Bellin, den weiß-blauen Hertha-Schal umgehängt. "Es gibt auch Werte, die über dem Erfolg stehen. Und die andere Frage ist, wie gehe ich mit jemanden um, der nicht gewonnen hat."
Fans, Fußballprofis und Funktionäre
Im christlichen Glauben geht es auch um Trost. Aber seelsorgerischer Beistand, weil es um den Lieblingsverein nicht gut steht, das sei bislang nicht vorgekommen, berichtet Felmberg. Gleichwohl begleiten er und sein katholischer Amtsbruder die "ökumenischen Gemeindemitglieder" aus Fans, Fußballprofis und Funktionären bei persönlichen Anliegen. "Probleme und Sorgen, die sind bei Profis gleich wie bei anderen", ergänzt Bellin. Zu den Spielern sagen sie auch mal, "Gott liebt Dich, auch wenn Du mal nicht triffst".
Und apropos Treffen: Wer glaubt, bei den Andachten vor Anpfiff auch Profifußballer auf den Hockern zu sehen, wird enttäuscht. "Sie sind auf das Spiel fokussiert". Manches spiele sich danach in Gesprächen ab, berichtet Bellin. An Nicht-Spieltagen ist die Stadionkapelle keineswegs verschlossen. Nicht nur Besuchsgruppen kommen durch die Katakomben des denkmalgeschützten Olympiastadions und sehen das Vaterunser in 15 Sprachen und Auszüge aus Psalmen an den Wänden. Auch Taufen, Trauungen und Trauerfeiern finden hier immer wieder statt. Und auch vor Länderspielen kommt es nicht nur auf dem Rasen, sondern ebenso nebenan in der "Ebene-4" zu Begegnungen. Bei Gebet und christlichem Gesang.
Beide Seelsorger erzählen gerne von legendären Momenten. Etwa bei der WM 2006, als Spieler der argentinischen und der deutschen Nationalelf hier gemeinsam vor dem Viertelfinale gebetet haben. Vor dem WM-Finale 2006 kamen italienische Kicker in die Stadionkapelle. Die Franzosen seien fern geblieben, erinnert sich Felmberg. Italien wurde Weltmeister. Aber ebenso wenig, wie für eine Mannschaft gebeten wird, sage hier niemand "Wer betet, der gewinnt". "Dann wäre es hier immer voll", lacht Felmberg. Nach der Andacht stehen die beiden Geistlichen vor der Kapelle, schütteln Hände - wie der Trainer seine Fußballer abklatscht - und wünschen ein spannendes Spiel. Auch Kirchenmusiker Schumacher beeilt sich jetzt, sein Fantrikot anzuziehen und auf die Tribüne zu kommen. Denn gleich ist Anstoß, nebenan auf dem Rasen.
Besichtigen, Trauen, Taufen
Die Stadionkapelle kann im Rahmen von geführten Touren durch das Olympiastadion besichtigt werden. Vor den Heimspielen von Hertha BSC Berlin finden um 14.30 Uhr Andachten statt, zu denen Kartenbesitzer Zutritt haben. Auch kirchliche Trauungen oder Taufen sind in der Kapelle des Olympiastadions grundsätzlich möglich. Kontakt zwecks
Terminabsprache: Management für Event und Hospitality der Olympiastadion Berlin GmbH, Telefon: 030 / 306 881 13 oder event@olympiastadion-berlin.de. Die Zeremonien sind auch an einem Spieltag von Hertha BSC mit anschließender Spielverfolgung möglich.