Der jüdische Kläger Michael Düllmann kämpft seit 2018 gerichtlich für die Entfernung der Skulptur, weil er sie als Beleidigung für alle Juden empfindet. Mit einer Entscheidung des BGH wird in einigen Wochen gerechnet.
Der Streit hat grundsätzliche Bedeutung, weil in Wittenberg die Reformation begann und Martin Luther (1483-1546) hier predigte. Zudem gibt es in Deutschland und Europa geschätzte 50 weitere ähnliche Darstellungen an Kirchenfassaden. 2020 hatte das Oberlandesgericht Naumburg die Klage abgewiesen.
Nun befasst sich das oberste deutsche Gericht, der BGH, mit dem Fall. Der Vorsitzende Richter des VI. Zivilsenats, Stephan Seiters, nannte die Darstellung "in Stein gemeißelten Antisemitismus". Auch sei klar, dass Düllmann unmittelbar in seinen Rechten betroffen sei, weil nach der Schoah alle in Deutschland lebenden Juden besonderen Schutz genössen.
Bleibt eine Beleidigung eine Beleidigung?
Zu entscheiden sei, ob die Darstellung durch den seit 1988 unter dem Fassadenrelief gestalteten Gedenkort mit Informationstexten "zu einem Mahnmal umgewandelt wurde", so Seiters. Zu klären sei ebenfalls, ob sich die Kirchengemeinde ausreichend von der antisemitischen Aussage distanziert habe. "Wir müssen aber auch entscheiden, ob eine Beleidigung eine Beleidigung bleibt, egal in welchem neuen Kontext sie gesetzt wird", so der Richter.
Die Kirchengemeinde argumentiert, die Distanzierung von der Aussage der "Judensau" sei klar erkennbar. Die Skulptur solle an Ort und Stelle bleiben, um Gedenken und Erinnerung möglich zu machen, so Stadtkirchenpfarrer Matthias Keilholz nach der Verhandlung: "Es braucht den Stachel im Fleisch, um immer wieder neu über die Jahrhunderte währende Judenfeindschaft und die Beteiligung der Kirchen zu reden."
Der Vorsitzende der Kirchengemeinde, Jörg Bielig, sagte, in Wittenberg gebe es Pläne, um die historische Einordnung und die Erläuterungen am Gedenkort noch klarer zu machen. Dabei gehe es etwa um per Smartphone vor Ort zugängliche Informationen.
Düllmann sagte der KNA, die Kirchen müssten sich ihrer historischen Mitverantwortung für die Judenverfolgung stellen und die Skulptur entfernen, andernfalls "wirkt der kirchliche Antijudaismus weiter".
Im Falle einer Niederlage vor dem BGH will er sich ans Bundesverfassungsgericht oder an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wenden.
Gesellschaftliche Debatte solle entscheiden
Die "Judensau" ist in etwa vier Meter Höhe angebracht. Seit einer Restaurierung vor dem Reformationsgedenken 2017 ist sie deutlich erkennbar. Dargestellt ist eine als Rabbiner karikierte Figur, die den Schwanz eines Schweins anhebt und das im Judentum als unrein geltende Tier von hinten betrachtet. Zwei weitere als Juden gezeigte Figuren saugen an den Zitzen. Eine vierte Figur hält Ferkel von der Muttersau fern. Bereits zu DDR-Zeiten entstanden unter dem Sandsteinrelief ein Denkmal gegen die Judenverfolgung und eine Informationstafel.
Der Kläger führte an, Erläuterungen und Gedenktexte seien keine ausreichende Distanzierung von der antisemitischen Geschichte der Kirchen. "Im Gegenteil, die historischen Zusammenhänge werden durch die wirren und verschwurbelten Texte noch verharmlost", so der Kläger-Anwalt.
Vor der Verhandlung hatte der Antisemitismus-Beauftragte der evangelischen Kirche, Christian Staffa, betont, der Streit um antijüdische Skulpturen könne letztlich nicht juristisch, sondern müsse in der gesellschaftlichen Debatte entschieden werden.