Binnenvertriebene in Nigeria fühlen sich vernachlässigt

Die vergessenen Flüchtlinge von Abuja

In Nigeria sind weit mehr als zwei Millionen Menschen vor der Terrorgruppe Boko Haram auf der Flucht. Immer wieder prangern Helfer die katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern an - doch vor Ort ändert sich nichts.

Autor/in:
Katrin Gänsler
Polizeiwache am Flüchtlingslager New Kuchigoro / © Wolfgang Kumm (dpa)
Polizeiwache am Flüchtlingslager New Kuchigoro / © Wolfgang Kumm ( dpa )

Als Anne Falola in New Kuchigoro aus ihrem Auto steigt, warten dort bereits einige Frauen auf sie. Die katholische Ordensschwester wird umarmt und muss viele Hände schütteln. 

Sie ist bekannt: Schon seit Jahresbeginn kommt sie oft mehrmals pro Woche in die Flüchtlingsunterkunft und bringt Abwechselung in den Alltag der Menschen.

Flucht vor Boko Haram

Die meisten der rund 2.000 Bewohner von New Kuchigoro leben bereits seit mehr als zwei Jahren hier. Sie stammen überwiegend aus dem Bundesstaat Borno im äußersten Nordosten Nigerias und flüchteten 2014 vor der Terrormiliz Boko Haram an den Rand der Hauptstadt Abuja. 

Zwar bezeichnet die Regierung des Landes die Terroristen als "technisch besiegt", doch die Menschen in dem Camp gehören zu den mehr als zwei Millionen Nigerianern, die aus Sicherheitsgründen weiterhin nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen.

Das Warten ist zermürbend, auch für die 19-jährige Rahab Peter, die in der Nähe der Provinzhauptstadt Borno groß geworden ist. Sie würde gerne zur Schule gehen, einen Abschluss machen und eines Tages Medizin studieren. Sie lächelt verlegen, als sie davon erzählt. Sie weiß, dass ihr Traum vermutlich nicht wahr werden wird.

Kinder von Mangelernährung bedroht

Mittlerweile gibt es in New Kuchigoro zwar eine Grundschule, doch vor allem Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen Jahren massiv unter der Terrorgruppe gelitten. Nach Schätzungen des UN-Kinderhilfswerk Unicef sind weiterhin 1,4 Millionen Kinder auf der Flucht. 

Allein in der Region um den Tschadsee seien 475.000 Mädchen und Jungen von Mangelernährung bedroht, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte zuletzt mehrfach alarmierende Zahlen.

So gravierend ist die Situation in New Kuchigoro nicht. Doch auch hier sind Infrastruktur und Versorgungslage schlecht. Immer wieder gab es Hoffnung auf Besserung, so etwa im Februar, als Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt während einer viertägigen Nigeria-Reise den Ort besuchte. 

"Sie brachten Zuversicht", erinnert sich die Ordensschwester, die Schadt von ihrem Engagement berichtete. Verbessert hat sich die Lage seitdem jedoch nicht - im Gegenteil. "Es gibt weniger Essen. Die Menschen sind verzweifelter, die Situation ist angespannter." Zwar sind zahlreiche internationale Organisationen im Land tätig, doch das Interesse konzentriert sich auf Vertriebene in Borno.

Für alle anderen gebe es keinen Plan, keine Integration, sagt Anne Falola. Sie versucht zu helfen, so gut es geht. Nahrungsmittelhilfe allein ist aus ihrer Sicht der falsche Weg. Gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern ist sie gerade dabei, eine Schneiderwerkstatt einzurichten. 

In den vergangenen Monaten haben die Frauen bereits Taschen und Portemonnaies aus Perlen hergestellt und verkauft. Rahab Peter hält eine in den Farben Pink und Orange hoch. Ihr gelingt ein Lächeln. Eine ähnliche Tasche hat sie bereits für umgerechnet knapp zehn Euro verkauft. "Damit kann ich meine Familie ein wenig unterstützen", sagt sie.

Regierung wünscht Umzug der Flüchtlinge in Heimatorte

In Abuja, wo Wohnraum extrem teuer ist, ist es nahezu unmöglich, sich ohne finanzielle Mittel eine Existenz aufzubauen. Wer ungelernt ist und etwa einen Job als Wächter findet, kann von dem Gehalt kaum überleben. Die meisten Binnenvertriebenen aus dem Nordosten sind zudem Farmer und haben nie etwas anderes gelernt. 

Da niemand in Nigeria davon ausgegangen ist, dass die Flüchtlingskrise so lange anhalten würde, wurden Strukturen wie Schulen oder Krankenstationen vielerorts gar nicht erst geschaffen. Mittlerweile hat die Regierung mehrfach den Wunsch geäußert, die Flüchtlinge mögen nach und nach wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. 

Für Anne Falola ist das eine absurde Vorstellung. Denn es mangelt im Nordosten nicht nur an einer funktionierenden Infrastruktur und an Sicherheit: Drei Jahre lang war das Risiko viel zu hoch, um dort Felder zu bestellen. "Es gibt nicht einmal etwas zu essen", klagt die Ordensschwester.

Christen in Nigeria

Der Anteil der Christen in Nigeria wird mit 40, teils mit über 48 Prozent angegeben. Fest steht: Die christliche Gemeinschaft nahm in den vergangenen fünf Jahrzehnten stark zu und ist die größte auf dem afrikanischen Kontinent. Katholiken machen laut vatikanischen Zahlen gut 15 Prozent aus; sie sind in 50 (Erz-)Bistümern und zwei Apostolischen Vikariaten organisiert. Andere starke Gruppen bilden die protestantischen Kirchen und die anglikanische Kirche.

Gottesdienst in Nigeria / © Katrin Gänsler (KNA)
Gottesdienst in Nigeria / © Katrin Gänsler ( KNA )
Quelle:
KNA