DOMRADIO.DE: "Mittendrin. Leben mit Demenz" - das ist das offizielle Motto der diesjährigen Woche für das Leben. Sie waren beim Auftaktgottesdienst in der Leipziger Nikolaikirche am Samstag mit dabei. Wie sehr sind denn Menschen mit Demenz mitten drin in unserer Gesellschaft? Oder eben auch nicht?
Dr. Franz-Josef Bode (Bischof von Osnabrück): Ich glaube, dass man das bei weitem noch nicht sagen kann. Sie sind mittendrin in unserer Gesellschaft, weil es sie überall gibt. Sie sind unter uns in unseren Familien.
Ich glaube, dass es inzwischen kaum jemanden gibt, der nicht als Angehöriger oder als Freund eine Erfahrung damit gemacht hat. Aber es wird eben auch oft nicht ausgesprochen. Oder es wird etwas beiseite gelassen oder etwas beschämt oder auch mit einer gewissen Hilfslosigkeit behandelt.
Deshalb ist es wichtig, dass das Thema zur Sprache kommt und dass man darüber spricht, wie man damit umgehen kann. Auch wenn uns selbst diese Situation trifft, denn wir müssen bei der allgemeinen hohen Lebenserwartung damit rechnen, dass uns das ja selber treffen kann.
Da muss man vorher mal darüber nachgedacht haben, wie man damit dann auch mit seinen Angehörigen umgeht. Das alles kam beim Auftakt am Samstag zur Sprache. Es war eine ausgesprochen stimmige Veranstaltung.
DOMRADIO.DE: Das Leben mit und auch das Pflegen von Menschen mit Demenz ist eine große Herausforderung. Wie wichtig ist es Ihnen in dieser Woche, auch die Familien und Pflegeeinrichtungen, die sich um demenzkranke Menschen kümmern, in den Blick zu nehmen?
Bode: Das genau ist der Punkt, dass wir Hilfen geben, dass wir überhaupt erst mal, wie man so schön sagt, demenzsensibel werden. Dass man überhaupt lernt, dass Menschen eben nicht nur kognitiv reagieren und über Leistung, sondern dass sie sehr stark auch emotional reagieren und man auch einen Umgang damit erlernen muss, sich darin einüben muss. Das wurde noch mal deutlich, auch bei der Podiumsdiskussion am Samstag.
Wir müssen unsere Einrichtungen und unsere begleitenden Personen, aber auch die Familienangehörigen darin stärken und stützen. Ich habe das bei einem Freund mit Alzheimer sehr deutlich erlebt. Da muss man sich erst immer mehr in die Welt eines Dementen einfühlen. Das erfordert Zeit, erfordert eine Auseinandersetzung damit.
DOMRADIO.DE: Die Woche für das Leben ist eine ökumenische Veranstaltung. Die Eröffnung war in der Leipziger Nikolaikirche. Inwiefern passte denn dieser Ort mit dem Motto zusammen?
Bode: Es ist natürlich ein grandioser Ort. Erstmal ist es eine großartige Kirche, die dazu diese besondere Geschichte hat. Damals, während der Wende 1989, ist gegen die Mauern und die Gewalt gebetet worden.
Hier wird also auch von einer glaubenden Seite das Thema Demenz angegangen, dass der Mensch nämlich eine unantastbare Würde hat, ob er nun gedächtnisfähig oder leistungsfähig ist oder kognitivfähig ist.
Und diese unantastbare Würde bis zuletzt und diese Würde, die man auch den Menschen geben muss, wo man den Menschen bei seinen Stärken und nicht bei seinen Schwächen fasst, war natürlich ein Thema in einer Kirche, wo die verändernde Kraft des Glaubens 1989 so viel bedeutet hat.
DOMRADIO.DE: Wo und wie kann denn oder sollte auch Kirche dabei unterstützen, Menschen mit Demenz wieder in die Mitte zu rücken?
Bode: Wenn wir an die Praxis Jesu denken: er holt Menschen in die Mitte, mit Verletzungen und Krankheiten jeder Art. Er hätte, wenn es diese starke Demenz damals schon gegeben hätte, sicher das genauso getan.
Im Evangelium kommen alle möglichen Beeinträchtigungen vor. Es wird ja sogar einmal bei der Erzählung vom Mann mit der verdorrten Hand gesagt, Jesus stellte ihn in die Mitte. Und das ist das, was Kirche tun muss: Wenn sie ihrem karitativen und diakonischen Auftrag gerecht werden will, dann muss sie gerade auch anwaltschaftlich für solche Menschen eintreten.
Das Interview führte Martin Mölder.