Bischof Jaschke über die Novemberpogrome

"Das geht nicht in mein Herz"

Der 9. November markierte vor 70 Jahren eine neue Phase der Verbrechen des Naziregimes an Millionen Juden. Geschehnisse, die den Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke bis heute nicht loslassen.

 (DR)

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Hamburg sprach Jaschke über die Verantwortung der Christen, neues jüdisches Leben und den "braunen Sumpf" in Deutschland. Der Weihbischof ist auch Vorsitzender der Unterkommission für den Interreligiösen Dialog der Deutschen Bischofskonferenz.

KNA: Herr Weihbischof, was verbindet die katholische Kirche heute mit dem 9. November 1938?
Jaschke: Für die katholische Kirche in Deutschland ist die Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938 eine große Belastung. Wir fragen uns heute: Wie konnte es in Friedenszeiten geschehen, dass vor den Augen der deutschen Christenheit die Synagogen niedergebrannt und die Juden verhaftet wurden, ohne dass es einen öffentlichen Protest oder ein Zeichen der Solidarität gab. Warum haben die Kirchen geschwiegen? Das geht nicht in mein Herz und nicht in meinen Verstand.
Dazu kommt für uns Christen und uns Katholiken das bittere Erbe des Antijudaismus. Die Kirchen waren nie von Antisemitismus, also einem Rassedenken, geprägt. Aber der rassistische heidnische Antisemitismus konnte auch auf Grund einer lange bestehenden christlichen Judenfeindschaft wachsen. So ist die Erinnerung an den 9. November 1938 für unsere Kirche, aber auch für mich als Christ und Kirchenmann, sehr bedrängend.

KNA: Wie kann man die Ereignisse von damals aufarbeiten?
Jaschke: Indem wir davon sprechen und wach bleiben gegenüber allen Formen von Feindschaft gegen Juden. Manchmal verbindet sich dies mit Kritik gegen den Staat Israel und einer Feindschaft gegen Israel und politischer Ablehnung. Natürlich muss man unterscheiden zwischen Israel und dem Judentum in der Welt. Andererseits ist der Staat Israel auch ein lebenswichtiger Ort für die Israelis, wie für Juden auf der ganzen Welt. Christen dürfen sich aus der Fürsorgepflicht für die jüdischen Brüder und Schwestern nicht wegstehlen.

KNA: Was heißt das konkret in Deutschland?
Jaschke: Wir haben viele Kontakte mit den Juden. In der Deutschen Bischofskonferenz und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken gibt es kompetente Dialoggremien. Wir pflegen in Deutschland die Wochen der Brüderlichkeit, die Gesellschaften für christliche Zusammenarbeit und viele Kontakte mit den jüdischen Gemeinden vor Ort. Das ist manchmal mühsam, weil die Juden eine kleine Minderheit bilden, die man entdecken muss. Die braucht auch ihren geschützten Raum. Lassen wir einander nicht los!

KNA: Wie lässt sich heute die Jugend für das Thema sensibilisieren?
Jaschke: Ich bin der Meinung, dass wir der Jugend nicht nur mit Horrorszenarien und moralischem Druck kommen dürfen. Wenn wir immer sagen "Das sind wir, die bösen Deutschen, gewesen", schreckt sie das ab und führt eher zur Abstumpfung. Die nachwachsende Generation braucht ein klares Geschichtsbewusstsein. Sie muss zu unserer Vergangenheit stehen. Sie muss über die Zusammenhänge informiert sein. Ich fordere immer wieder auch von anderen Völkern, dass sie ihre Vergangenheit aufarbeiten. Nur in gemeinsamer Wahrhaftigkeit kommen wir weiter. Gerade unsere Geschichte zeigt: Christen und Juden tragen eine hohe Verantwortung für das Miteinander in unserer modernen Welt.

KNA: Wie gefährlich sind Ihrer Meinung nach rechtsextreme Kräfte?
Jaschke: Dass der braune Sumpf immer wieder aufbricht, ist eine traurige Tatsache, nicht nur in Deutschland. Offenbar hat diese Ideologie eine Anziehungskraft auf Leute, die sich zu kurz gekommen fühlen, die nach einfachen Lösungen suchen. Dem muss man nüchtern und klar begegnen, aber nicht einfach moralisierend, weil dadurch das Ganze noch spannender wird und diese Leute sich erst recht wichtig vorkommen können. Ich möchte diesem braunen Sumpf den Mythos des Interessanten nehmen.

KNA: Im Deutschen Bundestag wird derzeit über die Einführung eines Antisemitismusbeauftragten beraten. Brauchen wir eine solche Institution?
Jaschke: Ich meine eher nein. Es kann dazu führen, dass eine Tabuhaltung bestärkt wird, dass man sagt, "gerade wir Deutschen müssen uns beim Thema Antisemitismus in Acht nehmen, wir werden beobachtet und brauchen einen Beauftragten, der uns unter die Lupe nimmt. Ich glaube, das schadet eher.

KNA: Inzwischen gibt es in Deutschland zunehmend jüdisches Leben.
Wie bewerten Sie diese Tendenz?
Jaschke: Ich freue mich sehr darüber und bin innerlich berührt, wenn ich sehe, dass Synagogen wieder aufleben und das religiöse Leben wieder Gestalt gewinnt. Andererseits bin ich beschämt darüber, dass jüdisches Leben unter Bewachung stattfinden muss. Gehen Sie mal in die Synagoge oder in die Talmud- und Thora-Schule in Hamburg, sie stehen hier unter Polizeiaufsicht, notwendig, aber bitter. Das zeigt, wie weit wir noch vom Normalen entfernt sind. Aber in Hamburg haben wir jetzt ein herrliches Cafe, in dem sich alle wohlfühlen können (gemeint ist das jüdische Cafe "Leonar" in Hamburg, Anmerk. d. Redaktion). Das Wiederaufleben jüdischer Kultur in Deutschland bereichert, und ich schätze sehr den Einsatz von Andor Iszak, dem Leiter des Europäischen Zentrums für jüdische Musik in Hannover, für den jüdischen Komponisten Louis Lewandowski und dessen synagogale Musik.

KNA: Wie bewerten Sie heute das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Judentum?
Jaschke: Wir sind mittlerweile so weit, dass wir christlich-jüdische Bibelkommentare gemeinsam schreiben können. Das ist ein großer Gewinn. Aber es fehlen nicht die Reizungen und wir müssen vorsichtig miteinander umgehen. Wir haben gesehen, wie die Änderung der Karfreitagsbitte durch Papst Benedikt XVI. zu einer bösen Verstimmung geführt hat. Der Text der alten tridentinischen Bitte musste unbedingt reformiert werden, da er nicht mehr akzeptabel ist. Ich persönlich glaube, dass es vor Gott nur einen Weg zum Heil gibt, aber man darf das nicht so formulieren, dass man Juden vor den Kopf stößt. Gottes Bund mit ihnen bleibt bestehen, Gottes Wege sind unergründlich,

KNA: Wie sieht es inzwischen nach den Irritationen im Frühjahr aus?
Jaschke: Die Wogen haben sich geglättet, aber das Gleichgewicht bleibt labil, wir müssen vorsichtig und aufmerksam miteinander umgehen. Auf keinen Fall dürfen wir uns verletzen. Christen müssen auch vor Augen haben, dass Juden in Deutschland in einer Minderheit leben und dürfen sie nicht unter Druck setzen. Juden wollen natürlich jüdisch glauben und leben. Christen haben gelernt, dass sie die Juden nicht missionieren dürfen. Aber vielleicht überfordern wir sie manchmal mit unserem ständigen Wunsch nach Dialog.

KNA: Wie sind Sie persönlich als Kind mit dem Thema Judenverfolgung konfrontiert worden?
Jaschke: Ich bin Jahrgang 1941 und konnte von daher nichts mitbekommen. Aber ich erinnere mich an den Judenfriedhof in dem Städtchen Bückeburg, das nach der Vertreibung meine Heimat wurde. Die Grabsteine waren umgestoßen, er hatte etwas Unheimliches und Merkwürdiges an sich. Als Schüler wurde ich nach und nach mit der grauenvollen Geschichte vertraut. Die Judenproblematik, ganz speziell die deutsche Geschichte, bedrängen mich bis heute. Das Thema lässt mich nicht los. Alles, was zu ihm publiziert wird, muss ich sehen und lesen. Erst vor kurzem habe ich wieder "Schindlers Liste" gesehen, auch mit Wut und Tränen.