DOMRADIO.DE: "Er suchte eine Frau, die Gewalt über einen Totengeist hat." Das war der Auftrag von Saul an seine Diener. Warum suchte Saul denn eine solche Frau?
Claudia Sticher (Beauftragte für biblische und theologische Bildung im Bistum Mainz): Saul ist am Ende seines Lebens angekommen, weiß es nicht ganz genau, ahnt es aber. Jedenfalls ist er in einer langen Reihe von Kämpfen mit den Philistern verwickelt und ist also am Vorabend einer großen und wichtigen Schlacht verzagt, wie noch niemals in seinem Leben zuvor.
Während all seiner Jahre hatte er die treue Begleitung des Propheten Samuel. Nur ist der inzwischen verstorben. Wir ahnen, Saul sucht nach dem letzten Mittel, diesen Beistand noch einmal herbeizurufen und fragt nach einer Totenbeschwörerin.
DOMRADIO.DE: Saul machte sich unkenntlich, zog andere Kleider an und ging dann zusammen mit zwei anderen Männern zu dieser Frau aus En-Dor. Mit welcher Absicht?
Sticher: Er als der König hat einen Erlass verkünden lassen, dass es keine Wahrsager und Totenbeschwörer in seinem Reich mehr geben darf. Dann kann er eigentlich nicht in voller Pracht und bei hellem Tageslicht kenntlich dort hingehen, weil er sich dann sehr unglaubwürdig gemacht hätte. Deshalb greift er zu diesem Mittel, sich zu verkleiden und im Dunkel der Nacht dorthin zu schleichen.
DOMRADIO.DE: Hat die Frau ihn erkannt?
Sticher: Zunächst nicht. Das wird in der Bibel hochspannend erzählt. Sie nimmt zunächst die Männer als Gäste wahr. Erst als es ihr dann gelingt, den Propheten Samuel aus dem Jenseits, aus dem Totenreich zu rufen, wird beschrieben, dass sie hellsichtig wird und sieht, dass vor ihr König Saul steht.
Genau in diesem Moment erschrickt sie ganz gewaltig. Denn natürlich kennt sie das Verbot, diese Totenbeschwörungen auszuüben.
DOMRADIO.DE: Was ist das denn für eine Frau, diese Frau aus En-Dor?
Sticher: Das ist eine Frau, die vermutlich so etwas wie einen Ahnenkult praktiziert. In Israel sind wir ja immer in dieser frühen Zeit damit konfrontiert, dass es in der Alltagsreligion Praktiken gibt, die eigentlich in der Religion, wie der König sie verkündet, nicht so gerne gesehen wird. Das Fachwort dafür wäre Nekromantie, also Totenbeschwörung.
Wir gehen mit guten Gründen davon aus, dass das weise Frauen sind, die ihr Handwerk vermutlich durch ihre Mütter oder Vorfahren oder andere weise Frauen gelernt haben. Sie können mit bestimmten Riten und Techniken die Toten sozusagen im Jenseits anrufen und ihnen Fragen stellen, wie wir das von anderen Kulturen auch kennen.
DOMRADIO.DE: Und was heißt En-Dor?
Sticher: "En" heißt Quelle. Sie sitzt an einer Quelle, denn wir wissen ihren Namen nicht. Wir wissen nur, dass sie "Frau von En-Dor" heißt. "Dor" heißt im Hebräischen Generation. Das finde ich einen schönen, sprechenden Namen. Sie sitzt sozusagen an der Quelle der Generationen und schöpft, so könnten wir sagen, aus dieser Quelle der Generationen auch das für die Gegenwart, was man da wissen möchte.
DOMRADIO.DE: Warum war es so spannend für Sie, sich mit dieser Frau zu beschäftigen?
Sticher: Für mich war zunächst nicht der hebräische Text interessant, sondern die ganzen Übersetzungen und Auslegungen. Denn je weiter man in der Zeit fortschreitet, wird aus dieser Frau eine Hexe.
In manchen Übersetzungen, auch in Kommentaren, kann man als Überschrift zu diesem Kapitel lesen: "die Hexe von En-Dor". Es ist etwas ganz anderes, ob ich sage die "Herrin von En -Dor", die "Frau von En-Dor", oder gar die "weise Frau von En-Dor" oder ob ich sie eine Hexe nenne. Je nach Überschrift werde ich diesen Text ganz anders lesen.
Das ist eine spannende Reise durch alle Übersetzungen, denn im Hebräischen ist sie zunächst mal eine Herrin über einen Totengeist. Im Griechischen gibt es eine Tradition, Leute, die weissagen, Bauchredner zu nennen, aber nicht so wie im Zirkus oder auf dem Jahrmarkt. Vielmehr geht es darum, klarzumachen, dass die nicht aus sich selbst reden, sondern andere Worte verkünden.
Für die Bibelübersetzung ist immer wichtig, wie es denn im Lateinischen war. Da lautet die Übersetzung sinngemäß: "die einen Python hat", gemeint ist die Schlage. Da sind wir ganz schnell in der gedanklichen Nachbarschaft der "Pythia von Delphi", also diesem Orakelwesen.
Ich fand das eine über die Maßen spannende Reise durch diese Übersetzungsgeschichte, weil da immer neue Bildwelten oder Auslegungstraditionen an diese Frau angeheftet werden.
Das ist die ganz große Schwierigkeit und die ganz große Kunst einer Bibelübersetzung, welches Wort in der Zielsprache am umfassendsten diesen Sinn bringt. Ich bin überzeugt, Hexe ist es nicht.
DOMRADIO.DE: Was sagt sie denn dann zu Saul? Und wie denkt er über sie?
Sticher: Sie ist sehr hilfreich für ihn. Sie sieht, wie verzweifelt er ist. Deshalb lässt sie Samuel aufsteigen. So wird es beschrieben. Dann sagt sie zunächst sehr wenig, denn Samuel prophezeit dem König Saul sein baldiges Ende.
Die Frau lässt ihn dann aber in dieser Mutlosigkeit nicht ganz verzagt zurück, sondern bereitet ihm ein fürstliches Mahl mit gebratenem Fleisch und allem Drum und Dran und bewirtet ihn über die Maßen respektvoll. Was Saul über sie letztlich denkt, erfahren wir nicht, denn er sagt dann zumindest in dieser Geschichte nichts mehr.
DOMRADIO.DE: Warum hat die Frau von En-Dor wohl keinen weiblichen Vornamen?
Sticher: Ich glaube, sie hat deshalb keinen Namen, weil sie in dieser Funktion eine Mittlerin zu sein scheint, ein Medium, würden wir heute sagen. Darin geht sie auf und darin soll sie in dieser Geschichte auch aufgehen. Das hat vielleicht ein bisschen den "Geruch" davon, dass es etwas Verbotenes ist, was sie tut.
Also ist es besser, man weiß den Namen gar nicht so genau. Aber auch beim Orakel von Delphi wissen wir im Prinzip nicht die Namen derer, die da sprechen. Ich glaube, es geht darum, hinter die Rolle zu treten. Dann wird sie einfach dort lokalisiert. Wir haben ja gemerkt, dass sie auffindbar war. Sie war sogar für die Gefolgsleute des Königs Saul auffindbar.
Das Interview führte Dagmar Peters.
Information der Redaktion : Weiterführende Informationen über namenlose Frauen aus der Bibel gibt es im Buch "Zeigt euch!", erschienen im Patmos Verlag.