Für viele polnische Holocaust-Überlebende ist der Name Kielce mit Schrecken und dem endgültigen Heimatverlust verbunden. Hier fand am 4. Juli 1946 das letzte große Pogrom in Europa statt. Die Opfer: 42 polnische Juden, einige von ihnen Holocaust-Überlebende, andere Rückkehrer aus der Sowjetunion, wo sie während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht gesucht hatten. Der brutale Mord durch einen Mob nach Gerüchten einer angeblichen Entführung eines christlichen Jungen trieb nicht nur die Überlebenden des Pogroms in die Flucht. Zehntausende polnischer Holocaust-Überlebender entschlossen sich unter dem Eindruck des Massakers, Polen zu verlassen.
Bogdan Bialek (61) war Journalist, Bürgerrechtler, Psychologe, und für manche der Überlebenden des Pogroms ist er so etwas wie der gute Mensch von Kielce. Er brachte in der Stadt seit den 1990-er Jahren mehr oder weniger im Alleingang eine Diskussion über die Ereignisse vom Juli 1946 in Gang, organisierte einen "Marsch der Erinnerung", suchte den Kontakt zu Überlebenden.
Suche nach der Wahrheit
Der polnische Katholik, ein mittelgroßer schlanker Mann mit graumeliertem Bart, machte sich schon früh auf die Suche nach der Wahrheit, einer Wahrheit, die in Polen schmerzt. Nur allzu gern erinnert schließlich nicht nur die nationalkonservative Warschauer Regierung an die Widerstandsbewegung, an Heldentum und Aufopferung im Kampf gegen die deutsche Besatzung. Dass es nicht nur vor 75 Jahren, im Juli 1941, im ostpolnischen Jedwabne und anderen Orten der Region zu brutalen Morden an den jüdischen Nachbarn kam, sondern selbst in der Nachkriegszeit, würden viele Menschen gerne verdrängen.
"Lange wollte niemand über das Pogrom sprechen", sagt Bialek. "Während des Kommunismus war das Thema tabu. Die Kirche wollte auch nichts damit zu tun haben." Bialek suchte das Gespräch – mit denen, die die Ereignisse verdrängten, mit traumatisierten Überlebenden, die eigentlich nie wieder nach Polen zurück wollten und dann doch nach Kielce kamen, um jungen Polen von dem Erlebten zu berichten. "Man trägt die Vergangenheit immer mit sich herum", sagt Bialek. Wenn ein Verbrechen wie eine unverheilte Wunde sei, könne nur mit der Wahrheit ein Heilungsprozess beginnen.
Versöhnungsprozess als Lebensaufgabe
Für Bialek wurde der polnisch-jüdische Versöhnungsprozess in Kielce zur Lebensaufgabe. Auch für ihn war es ein Lernprozess. "Ich habe die Leute mit der Vergangenheit konfrontiert, und ich musste erst einmal lernen, zuzuhören", sagt er. "Nicht jeder, der nicht meiner Meinung ist, ist ein Antisemit."
Das Haus "Przy Planty 7/9", wo die jüdischen Einwohner vor 70 Jahren mit Messern, Knüppeln und Äxten brutal umgebracht wurden, hat heute einen hellen Anstrich. Einige der Balkone sind mit Geranien geschmückt, eine ältere Frau putzt ihren Balkon. Nur die Gedenktafeln und die Porträts jüdischer Überlebender an der Fassade lassen die düstere Geschichte erkennen. Im Erdgeschoss hat ein von Bialek gegründeter Verein seinen Sitz. Regelmäßig hält er hier Antirassismus-Seminare für junge Polen ab.
Narben der Verletzungen
Der polnische Dokumentarfilmer Michal Jaskulski und sein amerikanischer Kollege Lawrence Loewinger haben vor wenigen Wochen einen Film über Bialeks Versuch einer Vergangenheitsbewältigung in der Stadt des Pogroms gedreht. "Bogdans Reise" lässt auch Überlebende zu Wort kommen, einige noch immer schwer gezeichnet von den Narben ihrer Verletzungen. In Kielce soll er zum 70. Jahrestags des Pogroms gezeigt werden.
Als Bialek im Jahr 2000 der ersten Marsch der Erinnerung organisierte, war er weitgehend allein: "Es kamen acht Journalisten, und wir waren zu viert." Inzwischen hat er die Unterstützung des Bürgermeisters und vieler Bürger, die nicht mehr über die dunkle Seite der Vergangenheit ihrer Stadt schweigen wollen. Ein paar hundert Menschen nahmen im vergangenen Jahr an dem Marsch teil. "Aber ich würde auch alleine gehen. Für die ganze Stadt."