"Welche Lösungen könnt Ihr Euch für Brasiliens Probleme vorstellen?" hatte der Geschichtslehrer Ricardo als Hausaufgabenstellung aufgegeben. Die Antwort eines Schülers: "Alle Kommunisten töten." Was Kommunisten sind, wusste der Achtklässler nicht, seine Eltern hätten ihm den Satz diktiert. Zuerst habe er daran gedacht, die Klasse über die Aussage des Schülers diskutieren zu lassen, berichtete Ricardo anonym in einem Online-Forum. Doch die Angst, verklagt und entlassen zu werden, habe ihn schweigen lassen.
Die Angst geht um in Brasiliens Klassenzimmern. Und das, obwohl die "Schule ohne Partei" (Escola sem Partido) bisher nichts als ein Gesetzentwurf ist. An verschiedenen Orten hatte die Justiz ähnliche Initiativen bereits gestoppt. Trotzdem sind die Lehrer aufgeschreckt. Am Dienstag soll nun eine Kommission des Kongresses über die Zukunft der Initiative abstimmen.
Lehrer online denunzieren
In jedem Klassenzimmer sollen demnach Schilder mit sechs Grundregeln hängen. Lehrer dürften weder politische und religiöse Überzeugen "predigen", noch Schüler wegen deren Überzeugungen benachteiligen. Aufrufe zu Demos sind tabu, genau wie Sexualkunde und Gender-Fragen. Die Lehrer müssen zudem die Wünsche der Eltern betreffs der politischen und religiösen Lehrinhalte respektieren.
2016 hatte ein Anwalt die Initiative gestartet, als an den Schulen die Diskussion über die Absetzung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff tobte. Lehrer sprachen von einem "Putsch", Eltern verbaten sich die "kommunistische Indoktrination" ihrer Kinder. Seitdem wirft man sich gegenseitig ideologische Beeinflussung der Schüler vor. Auf der Webseite der Initiative können die Lehrer online denunziert werden – ein Projekt, das in Deutschland die AfD in mehreren Bundesländern angestoßen hat. Schüler können zudem Videos hochladen.
Kirtik unmöglich
Man solle die Lehrer verklagen, rät die brasilianische Webseite, was auch bereits häufig geschieht. Zwar erhalten die Lehrer bisher meist Recht. Doch die Aussicht auf jahrelange und kostspielige Prozesse schüchtert viele ein. Zudem wollen Schulen Ärger mit Eltern vermeiden. Lieber entlassen sie da aufmüpfige Lehrer. Bei denen finde bereits eine Selbstzensur statt, freiwillig behandelten sie kontroverse Themen nicht mehr im Unterricht, berichten Lehrerverbände. Ein zur kritischen Reflexion anregender Unterricht sei nicht mehr möglich.
Der im Oktober gewählte rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro hatte im Wahlkampf gegen die "kommunistischen Lehrer" gewettert. In einem Video ruft er Schüler auf, doktrinierende Lehrer zu filmen. Dutzende solcher Videos zirkulieren bereits im Internet. In sozialen Netzwerken veranstalten Bolsonaros Anhänger regelrechte Treibjagden auf betroffene Lehrer.
Universitäten im Visier
Auch an den staatlichen Universitäten wächst die Angst. Vor der Stichwahl Ende Oktober hatte die Polizei landesweit Kundgebungen und Seminare mit "anti-faschistischem Inhalt" in Universitäten unterdrückt. Das Oberste Gericht untersagte die Interventionen. Trotzdem vermeiden auch hier Professoren nun lieber freiwillig polemische Themen.
Er werde demnächst bei der Besetzung der Rektorenposten mitreden, drohte Bolsonaro zuletzt. An den Universitäten herrschten Sex und Drogen statt ordentlicher Unterricht, sie seien regelrechte "Rattenlöcher". Zudem werde er nicht mehr zulassen, dass "unnütze" Themen in den zentralen Aufnahmeprüfungen für die Hochschulen auftauchten.
"Höchstpersönlich die Fragebögen checken"
Sein Zorn galt einer Aufgabenstellung zu sexuellen Minderheiten bei der Prüfung vergangene Woche. Er werde nun höchstpersönlich die Fragebögen checken, damit Erdkunde und Geschichte statt "solcher Sachen" abgefragt würden, so der Präsident. "Nur Mama und Papa klären über Sex auf. Und Schluss, darüber braucht andernorts nicht diskutiert zu werden", wetterte er via Facebook.
Fraglich ist, ob die konservative Agenda vor der Justiz Bestand haben wird. Zudem formiert sich im Senat Widerstand. Man werde radikale Ideen wie die "Escola sem Partido" stoppen. Bolsonaros Lager soll derweil bereits planen, im Internet und via WhatsApp Kampagnen gegen sich querstellende Politiker zu starten.