"Liebe Brüder und Schwestern,
'Höre auf die Stimme der Schöpfung', so heißt das Thema und die Einladung zur diesjährigen Zeit der Schöpfung. Die ökumenische Zeitspanne beginnt am 1. September mit dem Weltgebetstag für die Bewahrung der Schöpfung und endet am 4. Oktober mit dem Fest des heiligen Franziskus. Es ist eine besondere Zeit für alle Christen, um gemeinsam zu beten und für unser gemeinsames Haus Sorge zu tragen.
Ursprünglich vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel inspiriert, ist diese Zeit eine Gelegenheit, unsere 'ökologische Umkehr' zu kultivieren, eine Umkehr, die vom heiligen Johannes Paul II. als Antwort auf die vom heiligen Paul VI. bereits 1970 vorausgesagte 'ökologische Katastrophe' gefördert wurde.
Wenn wir lernen, auf sie zu hören, bemerken wir eine Art Dissonanz in der Stimme der Schöpfung. Auf der einen Seite ist es ein süßes Lied, das unseren geliebten Schöpfer preist, (...)
Leider wird dieses süße Lied von einem bitteren Aufschrei begleitet.
Oder besser gesagt, durch einen Chor von bitteren Schreien. Zunächst ist es Schwester, Mutter Erde, die schreit. Unseren Konsumexzessen ausgeliefert, stöhnt sie und fleht uns an, unseren Missbrauch und ihre Zerstörung zu beenden. Dann sind es die verschiedenen Geschöpfe, die aufschreien. Ausgeliefert an einen 'despotischen Anthropozentrismus' (Laudato si', 68), diametral entgegengesetzt zur Zentralität Christi im Schöpfungswerk, sterben unzählige Arten aus und hören für immer auf, Gott zu preisen. Aber es sind auch die Ärmsten unter uns, die aufschreien.
Die Armen, die der Klimakrise ausgesetzt sind, leiden am stärksten unter den Auswirkungen von Dürren, Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Hitzewellen, die immer intensiver und häufiger werden. Und weiterhin schreien unsere Brüder und Schwestern der indigenen Völker auf. Wegen räuberischer Wirtschaftsinteressen werden ihre angestammten Gebiete von allen Seiten angegriffen und verwüstet, und sie stimmen 'eine himmelschreiende Klage' an (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Querida Amazonia, 9). Schließlich schreien unsere Kinder auf. Bedroht durch kurzsichtigen Egoismus, fordern die Jugendlichen uns Erwachsene angsterfüllt auf, alles zu tun, um den Zusammenbruch der Ökosysteme unseres Planeten zu verhindern oder zumindest zu begrenzen.
Wenn wir diese bitteren Aufschreie hören, müssen wir Buße tun und schädliche Lebensweisen und Systeme ändern. Der Aufruf des Evangeliums 'Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe' (Mt 3,2), der zu einer neuen Beziehung zu Gott einlädt, bringt auch eine veränderte Beziehung zu den anderen und zur Schöpfung mit sich. Der Zustand der Zerstörung unseres gemeinsamen Hauses verdient die gleiche Aufmerksamkeit wie andere globale Herausforderungen wie schwere Gesundheitskrisen und kriegerische Konflikte. (...)
Der COP27-Klimagipfel, der im November 2022 in Ägypten stattfinden wird, stellt die nächste Gelegenheit dar, um gemeinsam eine wirksame Umsetzung des Pariser Abkommens zu fördern. Auch aus diesem Grund habe ich kürzlich veranlasst, dass der Heilige Stuhl im Namen und im Auftrag des Staates der Vatikanstadt dem UN-Rahmenübereinkommen über den Klimawandel und dem Pariser Abkommen beitritt, (...)
Der COP15-Gipfel zur biologischen Vielfalt, der im Dezember in Kanada stattfindet, wird seinerseits den Regierungen die Gelegenheit bieten, ein neues multilaterales Abkommen zu schließen, um die Zerstörung der Ökosysteme und das Artensterben zu stoppen. (...)
Um den weiteren Zusammenbruch des 'Netzes des Lebens' - der biologischen Vielfalt -, das Gott uns geschenkt hat, aufzuhalten, bitten wir und rufen die Nationen auf, sich auf vier Schlüsselprinzipien zu einigen:
1. eine klare ethische Grundlage für den Wandel schaffen, den wir brauchen, um die biologische Vielfalt zu retten; 2. den Verlust der biologischen Vielfalt bekämpfen, ihre Erhaltung und Wiederherstellung unterstützen und die Bedürfnisse der Menschen auf nachhaltige Weise erfüllen; 3. Förderung der weltweiten Solidarität angesichts der Tatsache, dass die biologische Vielfalt ein globales Allgemeingut ist, das ein gemeinsames Engagement erfordert; 4. Menschen in Situationen der Schwäche in den Mittelpunkt rücken, einschließlich derjenigen, die am stärksten vom Verlust der biologischen Vielfalt betroffen sind, wie indigene Völker, ältere Menschen und junge Menschen.
Ich wiederhole: 'Ich möchte im Namen Gottes die großen Bergbau-, Erdöl-, Forst-, Immobilien- und Agrarunternehmen auffordern, mit der Zerstörung von Wäldern, Feuchtgebieten und Bergen, der Verschmutzung von Flüssen und Meeren und der Vergiftung von Menschen und Lebensmitteln aufzuhören'.
Man kann nicht umhin, die Existenz einer 'ökologischen Schuld' (Laudato si', 51) der wirtschaftlich reicheren Nationen anzuerkennen, die in den letzten zwei Jahrhunderten am meisten verschmutzt haben; diese verlangt von ihnen, sowohl auf der COP27 als auch auf der COP15 anspruchsvollere Schritte zu unternehmen. Das bedeutet, dass sie nicht nur innerhalb ihrer eigenen Grenzen entschlossen handeln, sondern auch ihre Zusagen zur finanziellen und technischen Unterstützung der wirtschaftlich ärmeren Länder einhalten, die bereits die größte Last der Klimakrise tragen
Weitere finanzielle Unterstützung für die Erhaltung der biologischen Vielfalt sollte ebenfalls dringend erwogen werden. Auch die wirtschaftlich weniger wohlhabenden Länder haben eine erhebliche, aber 'diversifizierte' Verantwortung (vgl. ebd., 52); die Verspätungen der anderen können niemals die eigene Untätigkeit rechtfertigen. Wir müssen handeln, wir alle, und zwar mit Entschlossenheit.
(...) weinen wir mit dem bitteren Aufschrei der Schöpfung, hören wir ihn an und antworten wir mit Taten, damit wir und künftige Generationen uns weiterhin mit dem süßen Lied der Geschöpfe vom Leben und von der Hoffnung freuen können.
Rom, St. Johannes im Lateran, 16. Juli 2022, Gedenktag der seligen Jungfrau Maria auf dem Berge Karmel.
FRANZISKUS"