Ein Interview zur WM.
KNA: Erzbischof da Rocha, Staatspräsidentin Dilma Rousseff wurde bei der WM-Eröffnung ausgebuht, ihre Umfragewerte sinken. Hat die Bevölkerung vergessen, was die Regierung im sozialen Bereich geleistet hat?
Da Rocha: Sie erkennt die sozialen Verbesserungen an. Aber es bleiben noch viele Probleme: im Gesundheitssystem, der Bildung, im öffentlichen Verkehr und bei der Sicherheit. Die Menschen spüren sie täglich, aber die Mittel kommen nicht ausreichend an. Zum anderen ist das politische Bewusstsein der Brasilianer gewachsen, und damit wachsen auch die Ansprüche.
KNA: Wie spürbar sind die sozialen Veränderungen im Land?
Da Rocha: In Teresina, wo ich vor meinem Wechsel nach Brasilia Bischof war, sind die Veränderungen sehr stark spürbar, besonders die Überwindung der äußersten Armut. Wie in vielen anderen Regionen des Nordostens lebten die Menschen dort unter sehr prekären Bedingungen.
Die staatlichen Sozialprogramme haben gegriffen. Aber die Fortschritte haben an dem grundsätzlichen Problem der sozialen Ungerechtigkeit nichts geändert. Brasilien wird noch sehr viel Zeit brauchen - was an der Größe des Landes und der Größe der Probleme liegt.
KNA: Die sichtbaren Veränderungen gehen ja über den sozialen Bereich hinaus.
Da Rocha: Der große Gewinn der vergangenen Jahre liegt nicht bloß im Wirtschaftswachstum, sondern auch in einer stärkeren politischen Teilhabe. Da sind neue Kanäle aufgetan worden, auch im institutionellen Bereich; etwa die Schaffung von Gremien, in denen sich die Bürger einbringen können. In ganz Brasilien ist das politische Bewusstsein gewachsen.
Generell sind die Menschen heute der Politik gegenüber kritischer, und das empfinde ich als Hoffnung - obwohl es noch weit vom Ideal entfernt ist. Über Jahrzehnte hatten sich die Menschen scheinbar mit den Dingen abgefunden und dabei eine Passivität gegenüber sozialen Fragen an den Tag gelegt, als ob das gar nicht wichtig wäre. Auch in diesem Bereich hat sich viel getan, auch dank der Arbeit der Kirche und zivilgesellschaftlicher Gruppen, die die politische Beteiligung stets förderten.
KNA: Aber woher kommt dann die Abneigung gegenüber der Fußball-WM?
Da Rocha: Die Veröffentlichung der immensen Ausgaben für die WM hat die Menschen schockiert. Ich höre stets: Für die WM werden die benötigten Mittel problemlos locker gemacht. Geht es um den sozialen Bereich, ist das schon schwieriger. Zudem hat man die Bürger nicht gefragt, ob sie die WM hier veranstalten wollen - besonders mit all den FIFA-Auflagen. Hätte man damals die Kosten veröffentlicht, hätte man vielleicht die Zahl der WM-Spielorte reduziert.
KNA: Zuletzt haben die Proteste abgenommen, besonders seit dem Start der WM.
Da Rocha: Ja, das alles zeigt, dass wir in demokratischer Hinsicht gewachsen sind. Derartige Demos hätte es während der Diktatur nicht gegeben. Heute lässt man sie zu. Das zeigt eine Konsolidierung der Demokratie. Aber natürlich muss noch mehr Beteiligung kommen. Wir verlassen uns noch immer zu sehr auf den repräsentativen Charakter der Demokratie. Die Kirche hat dabei eine wichtige Rolle. Zwar ist die Gesellschaft heute pluralistischer. Das Wort der Kirche hat dadurch nicht immer die gleiche Resonanz wie früher. Aber wir merken, dass die Bürgerbeteiligung in den Gemeinden fundamental ist, weil man in Brasilien den politischen Parteien und den Politikern nicht traut.
Natürlich hat die Institution Kirche keine politische Position. Aber die Christen sollten nun mal am politischen Leben teilnehmen, besonders jetzt, so kurz vor den Wahlen. Und ich hoffe, dass der Bürger nach der WM aufwacht und die politische Beteiligung wieder aufnimmt.
KNA: Eine Sinnkrise des Fußballs im Fußball-Land Brasilien sehen Sie aber nicht?
Da Rocha: Der Fußball hat seinen Stellenwert. Was man hinterfragt, und das zu Recht, sind die als exzessiv empfundenen Ausgaben für die WM. Aber all das hat dem Volk trotzdem nicht seine Freude für den Sport und den Fußball genommen. Es stellt lediglich den teuren "FIFA-Standard" infrage in einem Land mit all diesen Mängeln und Problemen. Trotz all der klaren Erfolge im sozialen Bereich ist der Weg vor uns immer noch sehr lang. Doch ich bin Optimist, und wir müssen nicht den Kopf in den Sand stecken, genauso wenig wie die rosarote Brille aufsetzen. Trotzdem freuen sich ja alle; das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Kein anderes Ereignis ist dazu in der Lage, nur der Fußball.
Das Interview führte Thomas Milz.