Brasilien arbeitet dunkle Vergangenheit auf

Startschuss für die Wahrheit

Brasiliens Militärdiktatur von 1964 und 1985 könnte doch noch Gegenstand einer kritischen Aufarbeitung werden. Einen Anlass zur Hoffnung haben die Opfer und ihre Angehörigen seit dieser Woche. Präsident Luis Inacio Lula da Silva unterzeichnete ein Dokument zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe.

Autor/in:
Thomas Milz
 (DR)

Sie soll die gesetzlichen Voraussetzungen zur Einrichtung einer Wahrheitskommission legen. Man schätzt, dass etwa 20.000 Menschen in den Kellern der Militärs grausamer Folter unterzogen wurden. Weitere 400 wurden wohl getötet oder gelten als verschollen. Seit Jahren versuchen Opferfamilien, die Menschenrechtsverstöße vor Gericht zu bringen; sie waren bislang stets an dem 1979 verabschiedeten allgemeinen Amnestiegesetz gescheitert. Im April nun startete vor dem Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auf Betreiben der Opferfamilien ein Prozess gegen Brasilien. Regierungskritiker meinen, die jetzt eingesetzte Arbeitsgruppe könnte ein Versuch der Regierung sein, einen Imageschaden abzuwenden.

Falls der Kongress dem Gesetzentwurf zustimmt, soll die Kommission nach Aussagen des Sekretärs für Menschenrechte der Regierung, Paulo de Tarso Vannuchi, "pluralistisch und überparteilich besetzt sein und über einen zeitlich begrenzten Zeitraum arbeiten". Hunderte Opfer und Täter soll das Gremium anhören, um "deren Aussagen miteinander zu verbinden und genaue Daten, Orte, Arten von Vergehen und deren Täter zu bestimmen". Zudem gelte es, bislang unbekannte Opfer zu identifizieren.

Vorbild Deutschland
Vannuchi erläutert die Idee zur Wahrheitskommission: "Die Gesellschaft weiß ganz genau, was in unserer Vergangenheit passiert ist. Deutschland durchlebte im Nationalsozialismus eine unendlich schmerzlichere Erfahrung. Trotzdem haben die Menschen die Vorfälle diskutiert, selbst an den Schulen." Ob es auch zu Verurteilungen kommen wird, ist bislang unklar. Aufgrund des allgemeinen Amnestiegesetzes von 1979 jedenfalls hat die künftige Kommission keine Kompetenz zur Bestrafung von Tätern.

Dies könnte sich allerdings in Zukunft ändern. Am Obersten Gerichtshof steht noch die Entscheidung über eine Revision des Amnestiegesetzes aus. "Sollte das Oberste Gericht entscheiden, dass die Folterer nicht unter das Amnestiegesetz fallen, hätten wir eine juristische Grundlage hierzulande, um diese Personen zu bestrafen", so Vannuchi. Hoffnung geben den Befürwortern einer Strafverfolgung zudem eine Reihe von internationalen Abkommen, die festlegen, dass Menschenrechtsverletzungen und Folter nicht verjähren. Brasilien hat diese Abkommen ratifiziert.

"Eine Sache ist das Recht auf Erinnerung"
Gegen eine Strafverfolgung hat sich schon länger Verteidigungsminister Nelson Jobim öffentlich positioniert. "Die internationalen Abkommen stehen hier in Brasilien schließlich nicht über der Verfassung", so der Minister. Eine Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur bezeichnet Jobim als Versuch eines historischen Revanchismus: "Eine Sache ist das Recht auf Erinnerung", sagte er in einem Interview; "eine andere ist Revanchismus und die Bildung eines unnötigen Disputs mit den Streitkräften". Am Widerstand Jobims und einiger Parlamentarier war bereits Präsident Lulas Idee gescheitert, die Wahrheitskommission per Dekret einzurichten.

Für Menschenrechtssekretär Vannuchi ist die nun in Aussicht gestellte Wahrheitskommission die Möglichkeit, eine historische Schieflage innerhalb der Gesellschaft zu korrigieren: "In Brasilien gibt es eine Kultur der Straflosigkeit; und diese Straflosigkeit ernährt ihrerseits die Wiederholung des Verbrechens." Brasilien müsse die Rechnung mit seiner Vergangenheit begleichen, so Vannuchi, sonst verliere man seine moralische Autorität, andere zu kritisieren. Er sieht eine Verbindung "zwischen der fehlenden Diskussion über die Gewalt der Vergangenheit und den heutigen Problemen Brasiliens". Vielleicht gibt es ja für Tausende Opfer und ihre Angehörigen ab heute Grund zu neuer Hoffnung.