domradio.de: Bevor wir uns den Fastentricks zuwenden, müssen wir erst einmal schauen, wie Fasten denn eigentlich geht: Also, heutzutage sucht man sich zu Aschermittwoch ein Fastenanliegen und versucht, dies bis Ostern durchzuhalten. Nach dem Motto: Fasten ist meine Privatsache. Im Mittelalter hatten die Menschen da doch eine etwas andere Grundhaltung, oder?
Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti (Theologe und Brauchtumsexperte): Hatten sie schon - und haben sie heute eventuell auch noch, denn das Fasten ist ja nicht nur ein persönliches Tun oder Verzichten, sondern etwas, das in Gemeinschaft passiert. Das tun die Christen gemeinsam. Sie nutzen die 40 Tage vor Ostern, um in ihrer Welt eine Art Wüstenerfahrung zu realisieren. Das heißt, alles zu minimieren, um sich auf diese Art und Weise auf Ostern vorzubereiten.
domradio.de: Wir müssen noch eine weitere Begriffsklärung machen. Wir müssen doch unterscheiden zwischen Fastenzeit und den sogenannten Abstinenztagen. Was hat es damit auf sich?
Becker-Huberti: Fasten heißt, dass man sich der großzügigen Speisen enthält und nur eine sättigende Mahlzeit am Tag zu sich nimmt. Zweimal am Tag darf ein Imbiss dazukommen. Man darf aber - wenn es kein Freitag ist - auch Fleisch essen. Aber an den Freitagen und Aschermittwoch ist Abstinenz geboten, nämlich der Verzicht auf Fleisch in Erinnerung an den Tod Jesu beziehungsweise an das Fasten als eine Zeit der Askese.
domradio.de: Im Mittelalter hatte das Fasten vielleicht eine etwas öffentlichere Seite. Wann hat sich diese Haltung denn geändert?
Becker-Huberti: Das ist eine Folgeerscheinung der Säkularisation, also der Zeit nach 1800, wo Religion und Staat auseinanderdividiert wurden und die Religion etwas war, das man als Privatmensch ausüben oder seinlassen konnte. Das war im Mittelalter so eben nicht möglich. Diese neue Art der Weltsicht hat mit sich gebracht, dass das, was man religiös tut, nicht mehr den Stellenwert in der Gesellschaft hat, den es einmal früher hatte. Insofern ist dann das Fasten ein bisschen zurückgegangen - was aber nicht heißt, dass das generell und überall so ist. Es gibt auch da Gegenbewegungen. Ich erinnere etwa an die Aktion "sieben Wochen ohne" der Evangelischen Kirche oder daran, dass viele Leute, die mit dem Christentum überhaupt nichts zu tun haben oder haben wollen, die Fastenzeit durchaus auch nutzen, um die Kalorienzufuhr zurückzufahren und das Ganze unter gesundheitlichen Aspekten betreiben.
domradio.de: Dennoch ist es heute eine Privatsache. Widerspricht das nicht dem, was im Kirchenrecht steht? Und wie genau ist das denn da geregelt?
Becker-Huberti: Es widerspricht dem Kirchenrecht nicht. Das Kirchenrecht verlangt vom einem, dass man die Zeit für drei Dinge nutzt: für das Gebet, für den Verzicht und für Werke der Nächstenliebe. Der Verzicht ist dabei so gedacht, dass man das, was man auf diese Weise einspart, den Armen zukommen lässt. Das ist der Grundgedanke. Man will eigentlich nur erreichen, dass man alle sinnlichen Reize reduziert, um sich besser auf das konzentrieren zu können, was mit der Leidenswoche und mit Ostern verbunden ist.
domradio.de: Wir wollen uns aber auch den Tricks zuwenden, mit denen man das Fasten etwas leichter machen kann. Es gibt beispielsweise den Spruch: "Liquida non frangunt ieunum - Flüssiges bricht das Fasten nicht". Und das Bockbier gibt es ausgerechnet zur Fastenzeit. Komisch, oder?
Becker-Huberti: Eigentlich nicht. Man muss die Hintergründe kennen, dann kann man das richtig einordnen. Man muss sich vorstellen, dass in den früheren Zeiten des Mittelalters das Trinken von Wasser nicht möglich war. Man wusste nicht, dass man das Wasser abkochen muss, damit es nicht gefährlich werden kann. Also trank man normales Wasser überhaupt nicht. Man hatte aber auch keinen Tee oder Kaffee und konnte Säfte nicht konservieren. Also blieb relativ wenig übrig.
Das, was man trank, war Dünnbier. Das würde heutzutage kein Mensch mehr trinken, weil es einen schütteln würde. Aber das war das normale Getränk der Menschen früher - übrigens auch der Kinder, wenn sie von der Milch entwöhnt waren. In der Fastenzeit aber, in der die Regelung beispielsweise für die Mönche weiter bestand, nicht mehr als einen Liter Bier pro Tag zu trinken, waren diese auf die Idee gekommen, dieses Bier stärker einzubrauen. Sie haben damit dieses Starkbier hergestellt, was ihnen die Kalorien verschaffte, die ihnen beim Essen fehlten, denn sie mussten körperlich arbeiten und das irgendwie überstehen. Insofern ist dieses Starkbier für die Mönche in der damaligen Zeit kein Problem gewesen.
Als nach der Säkularisation die Klöster aufgehoben wurden, haben Privatleute die Brauereien übernommen und aus dem Starkbier ein Geschäft gemacht und verkaufen jetzt in der Fastenzeit dieses Starkbier. Da die Mönche es auch getrunken hätten, dürfe das jeder andere wohl auch tun, so ihre Argumentation. Das vergleicht zwei Dinge, die sich so ohne weiteres nicht miteinander vergleichen lassen. Das bringt ein kleines Ungleichgewicht in die Rolle des Starkbieres.
domradio.de: Und welcher Trick steckt hinter dem Spruch, der ungefähr so lautet: "Alles, was im Wasser ist, ist kein Fleisch." Was hat es damit auf sich?
Becker-Huberti: Die Idee war, dass das, was unter der Wasseroberfläche ist, Fisch sein muss. Das lässt sich weit auslegen. Man kann es ja auch so auslegen, dass die Gans mit den Füßen im Wasser paddelt - und weil sie das tut, ist sie unter der Wasseroberfläche. Dann behauptet man schlicht, sie sei ein Fisch. Das kann man mit anderen Tieren auch machen. Das hat die Biber fast die Ausrottung gekostet. Man hat nämlich auch die Biber zum Fisch erklärt. Die sind halt recht fettreich und nahrhaft. Man hat sie geschlachtet und sie in der Fastenzeit gegessen.
Man kann es aber sogar noch ein Stückchen weiter treiben: Der Grundherr, der Adlige, dem das Jagdrecht zustand, hat seinen Hirsch, den er in der Fastenzeit geschossen hat, dann zum nächsten Bach transportieren lassen, in das Wasser eingetaucht und erklärt, dass das, was unter der Wasseroberfläche ist, Fisch sei. So wurde der Hirsch als Fisch feierlich verspeist. Tricksen konnte man da jede Menge.
Das konnte auch der kleine Mann tun, indem er das, was er nicht essen durfte, versteckte. Zum Beispiel in Teigtaschen konnte man Fleisch einpacken und hatte auf diese Art etwas kreiert, was den schönen Namen "Herrgottbescheißerle" bekam. Man hat auf diese Art und Weise seine Fastenregel elegant gebrochen und trotzdem köstlich sein Fleisch verspeist. Auf diese Weise sind die Maultaschen entstanden.
domradio.de: Ausgedacht haben die Leute sich diese Tricks in Zeiten, als sie wirklich fürchteten für "Nichtfasten" bestraft zu werden. Gibt es denn auch noch Fastentricks der Neuzeit?
Becker-Huberti: In der Neuzeit gibt es eine ganze Menge. Aber man braucht eigentlich gar keine mehr. Es gibt so viele Ausnahmeregelungen, dass man jede Möglichkeit hat, an den Fastenregeln vorbeizukommen. Beispielsweise gibt es die alte Regel, dass man bis zum siebten Lebensjahr nicht fasten muss und nach dem 59. Lebensjahr ebenso nicht mehr fasten muss. Wer im Gasthaus essen muss, der muss nicht fasten. Wer bei protestantischen Familien am Tisch sitzt, der muss nicht fasten. Wer krank ist, muss nicht fasten. Wer auf Reisen ist, muss nicht fasten. Also, es gibt jede Menge Möglichkeiten, da auszuweichen. Das Fasten ist keine Bleischnüre, die einem um den Hals gehängt wird, um einen runterzuziehen und kaputt zu machen. Sondern das Fasten soll etwas sein, das man mit Freude tut. Verzicht kann Freude bereiten. Man muss es nur einmal ausprobieren.
domradio.de: Haben Sie denn noch einen konkreten Fastentrick der Neuzeit?
Becker-Huberti: Ein Fastentrick der Neuzeit kann schlicht und ergreifend der sein, dass man bei der Zunahme eines italienischen Nudelgerichts das Fleisch in der Soße klein macht. Auf diese Art und Weise isst man auch Fleisch. Es sieht eigentlich keiner, weil es sich zwischen den Nudeln verliert.
Das Interview führte Hilde Regeniter.