Brauchtumsexperte zu Ritualen am Jahresbeginn

Neujahrsbrezel, Liebesorakel oder ein Ferkelchen

Zwiebelorakel oder Wasserschöpfen: Früher gab es viele Bräuche, die mit dem Beginn des neuen Jahres verbunden waren. Einige haben es bis in unsere Zeit geschafft - andere nicht, erklärt Brauchtumsexperte Manfred Becker-Huberti.

Glücksklee / © Bernd Wüstneck (dpa)
Glücksklee / © Bernd Wüstneck ( dpa )

domradio.de: Zu Neujahr kommen mir die Neujahrsbrezel und der Neujahrskranz zum Frühstück in den Sinn. Welchen Hintergrund haben die?

Manfred Becker-Huberti: Die Neujahrsbrezel ist ein Gebäck, das extra zu diesem Tag hergestellt wird und Neujahr ankündigt und bezeichnet. Es ist zum Brauch geworden, diese Brezel zu nehmen und sie miteinander zu brechen und zu essen. Hier wird das Neue in den eigenen Leib mit aufgenommen und man wird Teil davon. Also, man wächst langsam, aber sicher, dort hinein. So, wie man die Brezel bricht und miteinander isst, so stößt man auch miteinander an, wobei auch das einen tieferen Sinn hat. Das Anstoßen macht man, damit die bösen Dämonen, die das Gute hintertreiben wollen, die guten Wünsche nicht hören.

domradio.de: Dazu sagt man dann noch: Prost Neujahr?!

Becker-Huberti: Ja, das kommt aus dem Lateinischen. "Prosit" bedeutet: es möge bekommen. Dieser gute Wunsch, den man jemandem anderen ausspricht, den muss man durch das Gläserklirren übertönen, damit die Dämonen diesen Wunsch nicht hören und ihn nicht hintertreiben können.

domradio.de: Überall tauchen Dämonen auf...

Becker-Huberti: Die sind - so glaubten unsere Vorfahren - überall. Deshalb muss man sich gegen sie schützen. Zu Neujahr gehört als weiterer Punkt noch das Orakeln. Wir rätseln heutzutage meist über den Wetterbericht und fragen uns, ob die Vorhersage stimmt oder nicht. Unsere Vorfahren hatten es da einfacher, sie hatten keinen Wetterbericht. Sie mussten sich etwas Ähnliches ausdenken. Sie suchten also Methoden, aus denen sie ablesen konnten, wie das neue Jahr wird. Das Berühmteste war das Zwiebelorakel. Dazu nahm man eine Zwiebel, teilte sie in vier Stücke, legte die Stücke in die vier Ecken eines Raumes und bezeichnete sie als Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Am folgenden Tag konnte man schauen, ob eine Zwiebel feucht geworden ist, dann regnete es in dieser Zeit des Jahres, oder ob sie ganz trocken war. Das war dann ganz gefährlich für die Feldfrüchte und konnte zu Trockenheit und Hunger führen.

domradio.de: Gab es denn noch weitere Orakel in früherer Zeit?

Becker-Huberti: Ja, das sogenannte Liebesorakel. Zum Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahres waren junge Damen bemüht, herauszufinden, ob sie einen Mann abbekommen und wenn ja, was das für einer ist. Dafür gab es vielfältige Methoden. Eine der schönsten war, dass man mit verbundenen Augen nachts raus zum Holzstapel ging, um Brennholz für das Feuer zu holen. Einen Balken zog man dann mit heraus, den man vorlegen musste. So wie der Balken aussah, so wurde der Zukünftige: alt und knorrig oder jung und frisch. Unsere Vorfahren waren dabei sehr erfinderisch.

domradio.de: Die Damen mussten aber schon mit verbundenen Augen zum Holzstapel gehen, oder? Da konnte man nicht vorher gucken?

Becker-Huberti: Alles, was magisch-mystisch ist, das passiert auf diese Art und Weise, beispielsweise auch das Wasserschöpfen. Man musste in irgendeiner Form gesegnetes Wasser haben. Dazu musste man fließendes Wasser schweigend in der Nacht schöpfen - am besten sollte das eine Jungfrau tun. Das bedeutete aber gleichfalls, dass sich alle möglichen Männer im gleichen Alter im Wald versteckten, um das Mädchen zu erschrecken. War das Erschrecken gelungen, so war dann die Wirkung des Wassers weg: aus dem Segenwasser wurde dann Plapperwasser.

domradio.de: Das sind alles Bräuche aus früheren Tagen und wohl in unserem städtischen Alltagsleben kaum mehr umsetzbar. Bei uns haben nun Glücksklee, Glücksschwein und Schornsteinfeger Hochkonjunktur. Die halten sich hartnäckig, oder?

Becker-Huberti: Ja, denn sie sind relativ einfach zu händeln. Zweitens steht dahinter auch eine Wirtschaft, die daran interessiert ist, dass diese Symbole am Leben gehalten bleiben, denn sie verdienen ja damit. Die Leute, die aus Marzipan Glücksschweinchen herstellen und die Leute, die vierblättrige Kleeblätter züchten, haben ihren Verdienst und wollen natürlich, dass auch dieses Brauchtum erhalten bleibt. Wobei die wenigsten eigentlich wissen, was der Hintergrund dieser Symbole ist. Das vierblättrige Kleeblatt entwickelt sein Glück nicht dadurch, dass man es verschenkt, sondern dadurch dass man es überhaupt gefunden hat. Wenn man es in der Natur gefunden hat - und nicht im Laden gekauft hat -, dann hat man schon Glück gehabt. Und weil man selbst dieses Glück mit anderen teilen möchte, gibt man dieses Pflänzchen weiter.

Das Schwein dagegen ist etwas ganz anderes. Das Schwein ist ursprünglich ein Trostpreis. Wenn unsere Vorfahren im Dorf Spiele veranstalteten, dann bekam nicht nur der Sieger einen Preis, sondern auch der, der ganz am Ende der Glücksschlange stand und alles verloren hatte. Dem schenkte man ein kleines Ferkelchen, das allerdings nicht an einer Kette lag. Das war der Nachteil. Man gab es dem Verlierer nicht an die Hand, sondern setzte es vor ihm auf den Boden und er musste es fangen. Natürlich amüsierte sich das ganze Dorf darüber, wie der arme, unglückliche Vogel hinter seinem Schweinchen herlief und versuchte, es zu erhaschen. Mit Glück konnte er es erwischen. Deshalb war es dann ein Glücksschwein.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Manfred Becker-Huberti / © privat
Manfred Becker-Huberti / © privat
Quelle:
DR