Briten stimmen für Loslösung von Europäischer Union

Tiefes Bedauern

Helle Aufregung in Europa und aller Welt: Großbritannien hat sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden. Papst Franziskus rief zur Besonnenheit auf. Man müsse die Entscheidung der Briten akzeptieren.

Die Briten stimmten für einen Brexit / © EPA/HANNAH MCKAY (dpa)
Die Briten stimmten für einen Brexit / © EPA/HANNAH MCKAY ( dpa )

Nach über 40 Jahren wollen die Briten als erstes Land überhaupt die Europäische Union verlassen. Eine Mehrheit von rund 52 Prozent der Stimmen sprach sich für den Brexit aus, den Austritt aus der Europäischen Union. Die Europäische Gemeinschaft mit bisher 28 Staaten wird damit in die schwerste Krise ihrer Geschichte gestürzt. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien könnten schwerwiegend sein. Der britische Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt für Oktober angekündigt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem tiefen Einschnitt für Europa und für den europäischen Einigungsprozess. Man müsse das weitere Vorgehen nun in Ruhe besprechen und die richtigen Antworten auf die Krise finden, so Merkel.

Papst: Entscheidung respektieren

Papst Franziskus mahnte Respekt vor der Entscheidung Großbritanniens zum EU-Austritt an und rief zur Besonnenheit auf. "Es war der ausdrückliche Wille des Volkes", sagte er am Freitag während des Flugs von Rom nach Armenien. "Das erfordert von uns allen eine große Verantwortlichkeit, um das Wohl des britischen Volks und auch das Wohl und das Zusammenleben des ganzen europäischen Kontinents zu gewährleisten. Das erwarte ich", so Franziskus vor den mitreisenden Journalisten. Der Papst erfuhr vom Ausgang des Referendums nach eigenem Bekunden erst an Bord der gecharterten Alitalia-Maschine. Franziskus ist am Freitag zu einer dreitägigen Reise nach Armenien aufgebrochen.

Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße nahm das Ergebnis mit Respekt und großem Bedauern zur Kenntnis. "Ich halte die Entscheidung für einen Rückschritt. Nicht nur in der Flüchtlingsfrage brauchen wir ein gemeinsam handelndes Europa. Der sicherlich oft mühsame Weg der Einigung Europas hat einen herben Rückschlag erlitten." 

ZdK ruft zu Reformen auf

Der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Stefan Vesper, rief die Union zu Veränderungen auf. "Die EU stärken, indem wir sie reformieren", schrieb er am Freitagmorgen auf Facebook. Zudem warb Vesper für einen noch entschiedeneren Einsatz der Christen für Europa.

In fünf "unsortierten Gedanken" zum Brexit, für den sich die Mehrheit der Briten am Donnerstag per Volksabstimmung ausgesprochen hat, formuliert der ZdK-Generalsekretär: "Das ist Demokratie, die Entscheidung ist zu respektieren." Er wirbt zugleich dafür, die "proeuropäischen britischen Freunde" nicht zu vergessen; es dürfe nun jedenfalls nicht ganz Großbritannien in einen Topf geworfen werden.

In dem Post griff Vesper den ehemaligen Londoner Bürgermeister und führenden Kopf der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, scharf an. Typen wie er würden sich nicht lange halten, "denn ihre dreisten Versprechungen werden schnell vergehen". Nach dem angekündigten Rücktritt von Großbritanniens Premier David Cameron gilt Johnson, der ebenfalls zur Konservativen Partei gehört, als ein möglicher Nachfolger.

BDKJ bedauert Entscheidung

Auch der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) bedauert den Ausgang des Referendums im Vereinigten Königreich. „Die Mehrheit der Menschen in Großbritannien hat sich mit ihrem Nein zur Europäischen Union gegen die gemeinsame Lösung aktueller Herausforderungen entschieden. Das ist ein trauriger Tag für Europa“, so die BDKJ-Bundesvorsitzende Katharina Norpoth.

Großbritannien hat sich zu mehr Nationalstaatlichkeit und zu mehr Abschottung entschlossen. „Angesichts der bekannten Problemlagen halten wir das für den falschen Schritt. Um die Herausforderungen zu lösen, braucht es ein gestärktes Europa, kein geschwächtes Europa“, kommentiert die Bundesvorsitzende das Ergebnis.

Konferenz Europäischer Kirchen enttäuscht

Der Vorsitzende der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), der anglikanische Bischof Christopher Hill aus Großbritannien, bedauerte das Ergebnis des Referendums. Viele für die Abstimmung entscheidende Behauptungen, besonders zum Thema Migration, hätten nichts mit den "tatsächlichen" Fakten zu tun, sagte Hill am Freitag in London. Der Ton während der Kampagne sei oft "hysterisch" gewesen.

Dem KEK-Vorsitzenden zufolge brauchen Europa und Großbritannien nun dringend eine ernsthafte Debatte über die Zukunft. Hill hoffe, dass die Kirchen eine Vision von Europa wiederbeleben könnten, die vom christlichen Verständnis der Gesellschaft geprägt sei. Nicht "nur" Wirtschaft, sondern das Wohl für die gesamte Gesellschaft solle dabei im Vordergrund stehen.

Der Bischof betonte, Großbritanniens Kirchen blieben Mitglieder der KEK. Die Organisation müsse nun zu einer vernünftigen Debatte mit den Kirchen in Europa beitragen, bei der besonders die Mitglieder in Süd- und Osteuropa miteinbezogen würden. - KEK ist ein Verbund von 114 orthodoxen, protestantischen, anglikanischen und altkatholischen Kirchen aus Europa. Die katholische Kirche unterhält ein EU-Büro in Brüssel; die EU-Bischofskommission COMECE wollte sich am Freitag nicht äußern.

Aktien britischer Unternehmen stürzten am Morgen ab, das Pfund Sterling erreichte den tiefsten Stand seit 1985. Politische Kräfte in Nordirland und in Schottland machten sich noch vor Bekanntwerden des Ergebnisses für eine Abspaltung von Großbritannien und den Verbleib in der EU stark. Schotten und Nordiren hatten mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert.

Hohe Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 Prozent, zuvor hatten sich 46,5 Millionen Wähler für die Abstimmung registriert. Das Referendumsgesetz legt streng genommen nicht fest, dass Großbritannien auch wirklich aus der EU austreten muss. In der Praxis jedoch hätte das Parlament wohl keine Wahl.

Premierminister David Cameron dürfte noch am Vormittag vor seinem Amtssitz Downing Street 10 eine Erklärung abgeben. Ein Rücktritt des seit 2010 amtierenden Regierungschefs wird nicht ausgeschlossen. Er hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Das ging nicht auf.  Die Aussicht auf einen Brexit drückte das britische Pfund auf den tiefsten Stand seit mehr als 30 Jahren. Am frühen Freitagmorgen fiel die britische Währung erstmals seit 1985 unter die Marke von 1,35 US-Dollar. In den ersten Handelsstunden des Tages hatte das Pfund wegen der Hoffnung auf einen Verbleib in der Europäischen Union zeitweise noch etwas mehr als 1,50 Dollar gekostet.

Der Ausgang des Votums hing bis zuletzt am seidenen Faden: Umfragen hatten ganz überwiegend ein Kopf-Kopf-Rennen vorausgesagt, zuletzt mit Vorsprung für das "Remain"-Lager. Allerdings gab es erhebliche Unsicherheitsfaktoren: Rund zehn Prozent der Wähler waren bis zuletzt unentschlossen, für welche Seite sie sich entscheiden sollten.  Politiker aus der ganzen Welt, der Internationale Währungsfonds (IWF), Wirtschaftsverbände und Banker in London und in Festland-Europa hatten immer wieder vor dem Brexit gewarnt. Sie fürchteten im Falle eines Austritts globale Turbulenzen in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten. Auch deutsche Unternehmen waren besorgt.  

Sorge um andere Mitgliedsstaaten

Innerhalb der EU ging nicht zuletzt die Sorge um, dass ein Brexit Austrittsbegehren auch in anderen Ländern der EU fördern könnte. Cameron hatte sich im Wahlkampf stark auf Warnungen vor massiven Einbußen im Falle eines Brexits konzentriert. Er drohte sogar damit, notfalls müssten Rentenkürzungen hingenommen werden. Das Brexit-Lager bezeichnete solch düsteren Szenarien als Panikmache. Brexit-Wortführer Boris Johnson argumentiert stattdessen, ein Austritt würde Londons Abhängigkeit von Brüssel beenden und dem Land seine Souveränität zurückgeben. Er sprach von einem "Unabhängigkeitstag" für Großbritannien. Außerdem gebe es innerhalb der Gemeinschaft keine Chance, die Einwanderung aus der EU zu begrenzen. Kritiker warfen dem Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage und Johnson dagegen vor, das Reizthema Migration zu missbrauchen, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. 

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zeigte sich enttäuscht über den Ausgang des Brexit-Referendums. "Die Nachrichten aus Großbritannien sind wahrlich ernüchternd.", sagte Steinmeier am Freitag in Berlin. Der SPD-Politiker wird am Freitag zu einem EU-Ministertreffen in Luxemburg erwartet, bei dem über die Folgen des Referendums beraten werden soll. Am Samstag kommen in Berlin die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten (Deutschland,Frankreich, Italien und die Benelux-Länder) zusammen.


Quelle:
dpa , epd