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DOMRADIO.DE: Die britische Regierung hat beschlossen, Migranten, die in Großbritannien ankommen, im Rahmen eines internationalen Abkommens nach Ruanda zu schicken. Wie stehen Sie als Jesuiten-Flüchtlingsdienst dazu?
Sophie Cartwright (Senior Policy Officer, Jesuit Refugee Service UK): Die Pläne der Regierung, Asylsuchende nach Ruanda auszuweisen, sind schlicht und einfach grausam und werden ganze Leben zerstören, wenn das tatsächlich alles so umgesetzt wird. Großbritannien negiert damit völlig unsere Verantwortung im Rahmen der internationalen Gemeinschaft, die weltweiten Flüchtlingskrisen zu bekämpfen.
Zudem ist das schlicht und einfach praktisch auf Dauer nicht umsetzbar. Von solchen Plänen, Asylverfahren ins Ausland zu verlagern, sollte Abstand genommen werden. Erst recht, wenn die Menschen in ein potentiell instabiles Land auf einem anderen Kontinent geschickt werden.
DOMRADIO.DE: Die britische Regierung spricht hier explizit von "illegalen Flüchtlingen", die ausgewiesen werden sollen. Was heißt denn in diesem Fall illegal? Jeder, der nicht offiziell per Verfahren Asyl beantragt?
Cartwright: Eine Klarstellung: In Großbritannien gibt es keinen offiziellen Weg, Asyl zu beantragen. Die UN-Flüchtlingskonvention erlaubt es Menschen, in ein anderes Land zu fliehen, auch ohne Dokumente oder offizielle Verfahren. Es steht übrigens auch nirgendwo drin, dass man im ersten Land, in dem man ankommt, Asyl beantragen muss.
Unter diesem neuen Regierungsplan wären theoretisch so gut wie alle Migranten und Flüchtlinge in Großbritannien von einer Abschiebung nach Ruanda bedroht.
Das ganze steht in einem größeren Kontext. Seit einiger Zeit schon weigert sich die britische Regierung, größere Zahlen von Migranten überhaupt im Bezug auf ihren Status im Land zu begutachten. Sie werden schlicht und einfach als "unzulässig für ein Asylverfahren" abgestempelt. Alle Menschen, auf die das zutrifft, sollen nach Ruanda abgeschoben werden, zumindest in der Theorie. In der Praxis wird das in diesem Maße nicht umsetzbar sein.
Viele Flüchtlinge sind auch gar nicht in der Lage, offizielle Wege einzuhalten, weil man in Konfliktsituationen zum Beispiel oftmals gar nicht zu einer britischen Botschaft kommt, um die entsprechenden Dokumente zu beantragen. Diese neuen Gesetze bestrafen also Menschen für Umstände, für die sie gar nichts können. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR bezeichnet dieses neue Gesetz als "Migrations-Bann" und das zu Recht.
DOMRADIO.DE: Nun gibt es Stimmen, die den Zuwachs an Flüchtlingszahlen seit Jahren kritisieren. Gäbe es denn eine Alternative, diese Situation anzugehen und die Zahlen zu senken, ohne die Menschen auf einen anderen Kontinent abzuschieben?
Cartwright: Wir müssen erst noch mal klarstellen: Der allergrößte Teil der Geflüchteten weltweit wird von Entwicklungs- und Schwellenländern versorgt. Das macht den Ruanda-Plan noch mal umso absurder. Gerade Großbritannien erhält im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen relativ geringen Anteil. Für das Jahr 2022 sprechen wir zum Beispiel von 74.000 Asylsuchenden. In Frankreich waren es fast doppelt so viele.
Ich würde also erst mal das Grundnarrativ des anwachsenden Flüchtlingsstroms in Frage stellen. Das geht meines Erachtens an der eigentlichen Problemstellung völlig vorbei.
Das wahre Problem ist der bürokratische Rückstau. Im Moment warten ungefähr 100.000 Menschen auf eine Entscheidung, ob sie im Land bleiben können oder nicht. In dieser Zeit können die Geflüchteten auch nicht in den Arbeitsmarkt einsteigen. Viele suchen verzweifelt nach Arbeit, die sie einfach nicht bekommen können. Das ist eine Hängepartie, die die Flüchtlinge auch von der sozialen Teilhabe ausschließt.
Unsere Empfehlung als Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist also, erstmal den Rückstau abzuarbeiten und die einzelnen Schicksale hinter den Akten sowohl effizient aber auch fair zu bewerten. Als nächstes wäre ein Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende nötig. Zudem braucht es Schutzmaßnahmen, die die Geflüchteten vor Ausbeutung bewahren.
Das wäre viel sinnvoller, als solche übertrieben aufwändigen und kostspieligen Maßnahmen zu ergreifen, die am Ende nur abschrecken sollen. Der Ruanda-Plan löst kein einziges Problem.
Im Gegenteil. Wir wissen aus anderen Ländern, dass eine Verschärfung der Regularien nicht dazu führt, dass weniger Menschen kommen, sondern nur, dass sie immer gefährlichere und undurchsichtigere Wege suchen, um ins Land zu gelangen.
Wir wissen in der Tat auch, dass der Regierungsbeamte, der diesen Plan entwickeln sollte, am Ende seine Unterschrift verweigert hat. Am Ende musste der Plan per Ministerialdirektive direkt vom Innenminister gegen den Rat seiner Experten durchgedrückt werden.
DOMRADIO.DE: Als Jesuiten-Flüchtlingsdienst sind Sie nicht nur auf der politischen Ebene aktiv, sondern stehen auch direkt beratend mit den Flüchtlingen selbst in Kontakt. Wie sieht da im Moment die Stimmung aus? Da gibt es sicher viel Verunsicherung.
Cartwright: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Viele sind im Moment von Grund auf verängstigt und wissen nicht, wie es mit ihnen weiter geht. Das sind nicht nur die Menschen, die das größte Risiko der Deportierung selbst betrifft.
Diese Meldung hat Angst und Panik in der gesamten Gemeinschaft der Geflüchteten in unserem Land ausgelöst. Das bringt dann wiederum auch ganz neue Gefahren mit sich. Diese Menschen sind in ihrer Situation sehr vulnerabel und können leicht ausgebeutet werden.
Im Moment verbreitet sich eine große Angst, auf behördliche Stellen zuzugehen, weil viele direkt die Abschiebung befürchten. Wer also wirklich Hilfe braucht, findet jetzt keine offizielle Anlaufstelle mehr. Wir arbeiten eng mit Organisationen zusammen, die im Bereich moderne Sklaverei aktiv sind. Die sind gerade sehr besorgt, dass sich dort die Lage extrem verschärfen könnte und mehr Leute in diese Form der Ausnutzung getrieben werden.
DOMRADIO.DE: Sie sagen selbst in vollem Maße wird dieser Plan nicht umsetzbar sein. Die britische Regierung spricht davon, dass in zehn bis zwölf Wochen die ersten Flüge gehen sollen. Denken Sie es gibt noch eine Chance das zu verhindern?
Cartwright: Wir als Jesuiten-Flüchtlingsdienst werden auf alle Fälle erst mal weiter unseren deutlichen Widerspruch laut machen. Wir werden nicht aufgeben. Es ist aber noch mal wichtig zu betonen, dass dieser Plan faktisch schlicht und einfach so schlecht durchdacht ist, dass wir keine Chance sehen, dass er in vollem Maße umgesetzt werden wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die ersten Flüge in ein paar Wochen trotzdem starten werden, ist relativ groß im Moment.
Wichtig ist es jetzt vor allem, die Menschen, die das betrifft, nicht aus dem Blick zu verlieren, also die verunsicherten Migranten, die nun große Angst haben, auf einen anderen Kontinent geschickt zu werden. Auf diese Menschen wird der Plan eine wirklich desaströse Auswirkung haben, ob sie nun deportiert werden oder nicht.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.