DOMRADIO.DE: In einigen Regionen Deutschlands bekäme die AfD über 30% der Stimmen, auch wenn die Wähler sagen, dass es nicht die Partei ist, die Antworten auf alle Fragen hat. Können Sie sich das erklären? Es sind ja nicht alles Nazis und Ausländerfeinde.
Bruder Paulus (Kapuzinerpater und Seelsorger): Es geht zum einen darum, dass Menschen unbedingt wollen, dass die Heimat im Vordergrund ist. Sie haben Angst, ihre Heimat zu verlieren und das, was sie so gewohnt sind. Das ist ein Widerstand gegen den Wandel. Sie wollen die Veränderung nicht wahrhaben, und damit erfolgt dann meistens ein nächster Schritt, nämlich dass Menschen aggressiv werden und sagen, dass es jetzt doch noch irgendeine Lösung geben müsse. Und sobald jemand eine einfache Lösung verspricht, ist er dann endlich derjenige, der es so kann. So ungefähr wie ein Arzt, der einem sagt, dass er schwere Krankheit diagnostiziert hat und man das nicht glauben will. Dann sagt man, es muss doch noch irgendwo einen Gesundbeter geben und dann bezahle ich den halt und dann wird er mich schon gesund machen.
DOMRADIO.DE: Ist das eine aktuelle gesellschaftliche Entwicklung? Im Moment erleben wir diese Polarisierung besonders extrem.
Bruder Paulus: Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren vergessen haben, dass Demokratie eben kein Spaziergang ist, sondern tatsächlich auch erstritten werden muss und dass Menschen da auch Herzblut und auch ihren Verstand reingeben müssen.
Es ist viel zu lange auf diejenigen geschielt worden, die das schon "irgendwie machen werden". Menschen dachten, der Staat ist wie eine Art Schlafwagen, da brauche ich nur mitzufahren.
An der geringen Wahlbeteiligung haben wir das gesehen, an den Parteien, die Mitglieder verlieren und auch daran, dass die wirklichen Diskussionen dann nicht bei Parteiveranstaltungen geführt werden, sondern im Internet oder sonst wo. Man geht nicht mehr irgendwo gerne hin, wie man schon lange nicht mehr gerne in die Kirche geht. So geht man auch nicht gerne zu anderen Versammlungen, wo man eben doch mit Herz und Verstand dabei sein muss.
DOMRADIO.DE: Am Dienstagabend sind in Köln trotzdem 30.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Rechtspopulismus zu protestieren. Das sind Menschen, die aufstehen. Aber beruhigen wir damit nicht auch nur unser Gewissen?
Bruder Paulus: Diese Erfahrung machen ja auch die Chöre und die Vereine. Man kann Projekte ins Leben rufen, da geht man gerne hin, sechs bis acht Wochen. Aber langfristige Bindung ist im Moment nicht hoch im Kurs. Da ist die christliche Soziallehre, die davon spricht, dass es neben der Personalität, neben den einzelnen Menschen die Solidarität braucht und die Unterstützung der Schwachen. Das braucht ein kontinuierliches Mitmachen. Das hat im Moment nicht gerade sehr große Konjunktur. Und ich würde mir wünschen, dass die, die jetzt auf die Straße gehen, in einer Partei aktiv mitwirken. Dort finden sie vielleicht nicht alles, aber können mitreden und auch politische Willensbildung betreiben, wie das Grundgesetz es will.
DOMRADIO.DE: Die Scheu vor dem Engagement im Zusammenhang mit der Kirche haben Sie angesprochen. Aber auf der anderen Seite erleben wir ja auch gerade im innerkirchlichen Kontext eine große Polarisierung.
Bruder Paulus: Genau, denken Sie an die Rede des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass das ganze Volk Gottes verantwortlich ist für den Weg der Kirche durch die Zeit. Das ist noch längst nicht in allen Köpfen angekommen, auch nicht in den Köpfen derer, die Verantwortung tragen, wie Leitung gestaltet wird, wie Mitbestimmung gestaltet wird, wie man mitreden darf. Da ist lange zu wenig auf alle geschaut worden. Das synodale Prinzip erlebt ja jetzt endlich einen Schritt nach vorne. Da haben sich viele Gläubige abgewandt, weil sie nicht gehört wurden und ihre Stimme nicht zählte. Und hier muss die Kirche den Leuten sagen, dass ihr Verstand auch für gesellschaftliche Fragen getauft ist, aber auch für kirchliche Fragen. Kirche muss das anerkennen und um Mitgestaltung bitten.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie mit Menschen um, die zu simple Antworten suchen oder geben? Gehen Sie dann mit denen in die Diskussion?
Bruder Paulus: Als Seelsorger bin ich vor allen Dingen sehr aufmerksam, welche Angst oder Wut jemand in sich trägt. Ich glaube, wenn wir über die Angst ins Gespräch kommen sind viele Menschen häufig erstaunt, dass man ihrer Wut und ihrer Angst Raum gibt. Angst und Wut sind ja auch immer legitim, aber ein sehr schlechter Ratgeber. Die Wut, die sie in sich tragen, richtet sich oft auf Menschen und auf Gegebenheiten, die auch so mit der Wut nicht geändert werden können. Da wäre die Kirche ja prädestiniert, ihre Türen dafür zu öffnen: Man darf Angst haben, man darf wütend sein. Aber bitte, der Heilige Geist hilft, den Verstand mit einzuschalten, damit man nicht blind agiert, verurteilt und handelt.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.