Der Satz bewegt den katholischen Interessenvertreter sichtlich. "Wenn es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen, dann braucht es genauso ein Dorf, um es zu missbrauchen", zitiert der Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, aus einem Aufsatz des Tübinger Theologen Michael Schüßler. "Wenn der Satz stimmt, dann müssen wir uns fragen: Wer gehört zu diesem Dorf?" Sternberg antwortet selbst und nennt auch explizit die Gruppe, die er vertritt: die Laien. "Es hat so etwas gegeben wie das Decken von Missbrauchstaten, von Klerikern durch Gemeinden", sagt er und spricht sich für eine Konfrontation mit diesem Thema aus. Der ZdK-Präsident äußert sich am Donnerstag bei der Online-Vorstellung des Buchs "Ohnmacht. Macht. Missbrauch.", in dem Schüßlers Beitrag erschienen ist. Herausgegeben von zwei Bonner Wissenschaftlern - dem Moraltheologen Jochen Sautermeister und dem Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal - enthält der 200 Seiten starke Band aus dem Herder-Verlag neun Aufsätze hauptsächlich von Theologinnen und Theologen. Entstanden ist das Buch aus einer Vorlesungsreihe an der Universität Bonn. Es widmet sich den systemischen Hintergründen von Macht und Missbrauch in der katholischen Kirche. Ein weiterer Teil des "Dorfes", den Sternberg benennt, ist die akademische Theologie. Die Disziplin müsse sich fragen, ob sie Denkformen vermittle, die Machtmissbrauch begünstigten, argumentiert Mitherausgeber Sautermeister in seinem Beitrag. Die eigenen Machtverstrickungen seien zu durchleuchten, fordert er. Der Moraltheologe spricht sich zudem gegen Idealisierungen und Sakralisierungen in der Kirche aus. "Es bedarf einer Theologie, die das Menschsein in all seinen Facetten wahrnimmt und ernst nimmt", mahnt er. "Wenn das gelingt, kann Kirche wieder zu einem heilsamen Lebensraum werden." Ein Aufsatz stammt aus dem Bereich der Psychologie. Andreas Jud und Marion Jarczok, die an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm arbeiten, geben in ihrem Beitrag einen Überblick über die bisherigen Schritte zur Missbrauchsaufarbeitung und Prävention in der katholischen Kirche. Demnach haben sowohl die deutschen Bistümer als auch der Vatikan in den vergangenen Jahren mehrere Verordnungen verabschiedet und Studien zum Thema erstellt. Insgesamt beziehe die Kirche aber die Betroffenen zu wenig ein, befinden die Wissenschaftler. Zudem sei der Aufarbeitungswille in den Bistümern deutlich unterschiedlich und die ergriffenen Maßnahmen würden nur ungenügend auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. In den weiteren Beiträgen geht es unter anderem um die Rolle der Seelsorger und des Kirchenrechts.
Das Buch "Macht. Ohnmacht. Missbrauch" gibt einen wertvollen Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu den systemischen Ursachen von Missbrauch und Macht in der katholischen Kirche. Schade ist, dass sich diese bislang meist auf die Disziplin der Theologie verengt. Zwar enthält der Aufsatzband wenigstens einen Beitrag aus dem Bereich der Psychologie. Weitere nicht-theologische Perspektiven wären für die Debatte aber sicherlich bereichernd.