Buchautor über die Wahl in den Niederlanden

"Erste Schlachtopfer: Toleranz und Geduld"

"In den Niederlanden erleben wir eine selbsterfüllende Prophezeiung", so der belgische Autor Stefan Hertmans. Durch die Auflehnung des Demokraten Rutte gegen die Türkei befürchtet er eine Radikalisierung der türkischern Bevölkerung.

Stefan Hertmans / © Michiel Hendryckx
Stefan Hertmans / © Michiel Hendryckx

domradio.de: In wieweit ist der Streit, der zwischen der Türkei und den Niederlanden entfacht ist, Teil des Wahlkampfes in den Niederlanden?

Stefan Hertmans (Autor): Er ist auf jeden Fall ein entscheidender Teil des Wahlkampfs! Rutte, der das Verbot gegen den Türkeiminister geäußert hat, weiß sehr gut, dass - wenn er das Verbot nicht geäußert hätte - die Hälfte der Bevölkerung mit Widlers mitgehen würde. Wir spüren jetzt, wie ein ganzes Land in den Griff der Angst geraten ist. Ein demokratischer Politiker wie Rutte, tut etwas, was besonders für uns Belgier unverständlich ist. Das sollte man eigentlich nicht machen. In einer Nacht hat er dadurch möglicherweise die Hälfte der türkischen Bevölkerung in den Niederlanden radikalisiert und "pro Erdogan" stimuliert. Das hat er gemacht, weil er vor Wilders Angst hat.

domradio.de: Das heißt, gäbe es Wilders nicht, wäre Rutte nicht so hart gegen die Türkei vorgegangen?

Hertmans: Davon gehe ich aus. Vom Wesen her ist Rutte jemand, der alles kontrollieren möchte. Wilders ist dadurch jetzt in einer Situation, in der er nichts tun muss. Er kann nur lachen und zynisch sein.

domradio.de: Die sogenannte Freiheitspartei von Gerd Wilders, der er nur selber angehört, könnte bei den Wahlen am Mittwoch stärkste Partei in den Niederlanden werden. Das klingt zunächst erschreckend. Auf der anderen Seite wird die Partei, selbst wenn sie stärkste Partei wird, höchstens 17 Prozent aller Stimmen bekommen. Wird Wilders Partei ein wenig überbewertet?

Hertmans: Das ist eine Art von selbsterfüllender Prophezeiung. Man prophezeit es und es wird auch so kommen, weil man Angst davor hat. Das ist die gleiche Kraft, die in Frankreich bei Marie Le Pen wirkt. Alle Medien sprechen darüber. Deshalb sind sie auch immer in den Gedanken der Leute. In Belgien beispielsweise, haben wir eine Partei, die sehr separatistisch ist und das Land spalten möchte. Dann hätten wir ein unabhängiges Flandern - was sollten wir aber damit machen? Das ist Blödsinn. Sie sagen, sie wären die Stimme des Volkes, aber das stimmt nicht. Zählt man einmal die Stimmen, sind es nur 22 Prozent der Bevölkerung, die ihnen zugewandt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung stimmt ihnen gar nicht zu. Das kann man auch bei dem "Trump-Betrug" der Populisten sehen. Sie sagen immer, dass sie nur vergegenwärtigen, was jeder sagt und, dass das gesunder Menschenverstand wäre. Das heißt jedoch, dass die Repräsentanz von diesen Parteien stark überschätzt wird.

domradio.de: Die Niederlande galten lange Zeit als Vorbild eines Landes, in dem viele Kulturen friedlich und gut miteinander auskommen. Warum hat sich das geändert?

Hertmas: Ich habe dafür nur eine Erklärung: das Bild, das wir im Ausland von den Niederlanden als eine progressiv-offene Nation bekommen haben, bezog sich primär auf Amsterdam, Den Hag, Utrecht, Rotterdam - die großen Städte im Westen. Im Osten des Landes hingegen, sind immer schon sehr konservative Gegenden gewesen. Auch die Protestanten sind in diesen Gegenden immer noch sehr konservativ, die zum Beispiel einige medizinische Behandlungen abweisen. Dieses Holland haben wir nicht gesehen. Es ist eine Art "Rachebewegung" von Leuten, die sich von den Linken und Progressiven unterdrückt gefühlt haben. Es gibt also ein Land-Stadt-Gefälle. Wilders selbst kommt aus Venlo, der Provinz Limburg. Man sieht, wie seine Worte überschlagen. Auch Leute in Amsterdam sagen jetzt: "Wir haben genug von den Türken", "Wir haben immer gedacht, sie emanzipieren sich, aber das machen sie nicht. Stattdessen radikalisieren sie sich nur". Es gibt gerade so viel Verwirrung, dass das erste Schlachtopfer die Toleranz und die Geduld ist.

domradio.de: Was muss jetzt passieren? Was können wir tun, damit diese Entwicklungen, der zunehmende Nationalismus in Europa, und die Ausländerfeindlichkeit nicht noch schlimmer wird?

Hertmans: Das ist eine schwierige Frage. Ich bin ein Dichter und kein Politiker. Vielleicht müssen wir wieder mehr verteidigen, was Demokratie heißt. Und der Dialog zu neuem Denken muss gefördert werden. Der Autor David Van Reybrouk hat ein Buch gegen die Wahlen geschrieben. Er sagt, dass das Wahlsystem, das wir jetzt haben, nichts mehr ändern kann. Richtige Partizipation ist durch das jetzige System, in dem nur alle vier Jahre gewählt wird, nicht mehr möglich. Bürgerinitiativen können das ändern. Es braucht mehr Diskussionen, mehr Toleranz und mehr Offenheit. Das mag vielleicht naiv klingen, aber es gibt keinen anderen Weg.

Heute Abend liest Stefan Hertmans auf der Lit.Cologne in Köln Nippes. Sein Roman "Die Fremde" ist im Hanser-Verlag Berlin erschienen und kostet 23 Euro.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Rechtspopulist Geert Wilders  (dpa)
Rechtspopulist Geert Wilders / ( dpa )
Quelle:
DR