Bunte sechsstündige Zeremonie mit mehreren hundert Gläubigen

Eritreer feiern jeden zweiten Sonntag Marathon-Gottesdienst

Davon kann jeder deutsche Pfarrer nur träumen: Zu Gottesdiensten der eritreisch-orthodoxen Gemeinde in Hamburg kommen regelmäßig bis zu 600 Besucher. Die Feier beginnt schon in der Nacht und dauert über sechs Stunden.

Autor/in:
Michael Althaus
Taufe in eritreisch-orthodoxem Gottesdienst / © Antonino Condorelli (KNA)
Taufe in eritreisch-orthodoxem Gottesdienst / © Antonino Condorelli ( KNA )

Sonntagmorgen, über der Stadt liegt noch die Dämmerung. Während viele Hamburger noch schlafen, herrscht in der Kreuzkirche im Stadtteil Ottensen bereits dichtes Gedränge. Jeden zweiten Sonntag trifft sich die eritreisch-orthodoxe Gemeinde Sankt Michael in dieser eigentlich evangelischen Kirche zu ihrem Gottesdienst – und der hat es in sich: Mit bis zu 600 Menschen ist die Kirche gerammelt voll. Die Priester in bunten, goldbestickten Gewändern singen fast während der ganzen Zeremonie. Die dauert an normalen Sonntagen zwischen sechs und sieben Stunden, an Festtagen gerne auch noch länger.

Das Gewusel ist schon vor dem Gotteshaus groß: Ganze Busladungen von Eritreern strömen in die Kirche; einige Linien des Hamburger Verkehrsverbunds verstärken für den Gottesdienst eigens ihren Takt. Vor dem Kirchenportal stehen etwa zwei Dutzend Kinderwagen, weil auch Kleinkinder mit zum Gottesdienst kommen. Wer eintritt, muss die Schuhe ausziehen. So ist es bei den Eritreern üblich. Weil es in der evangelischen Kirche kein Regal zum Abstellen gibt, bekommt jeder eine Plastiktüte, in der er seine Schuhe verstauen und mit an seinen Platz nehmen kann.

Auch Issac Frewoini streift ihre Schuhe ab und betritt die Kirche. Die 45-jährige Eritreerin lebt seit 1992 mit ihrer Familie in Hamburg und kommt regelmäßig zum Gottesdienst. Wie alle Frauen trägt sie ein Kopftuch und hat ein weißes Gewand angelegt – ein Zeichen der Reinheit. "Aller Unfriede und aller Streit soll im Gottesdienst draußen bleiben", erklärt sie. In der Kirche herrscht Geschlechtertrennung – rechts sitzen die Frauen, links die Männer. Frewoini nimmt auf der Frauenseite Platz.

Bunte Verwandlung

Der Gottesdienst, der von sechs Priestern und rund 30 Diakonen geleitet wird, ist längst in vollem Gang. Er hat bereits um 4.30 Uhr begonnen; die Geistlichen kamen sogar schon um 3 Uhr, um alles vorzubereiten. Sie haben die schlichte evangelische Kirche mit weißen Wänden und karger Innenausstattung in ein farbenfrohes orthodoxes Gotteshaus verwandelt: Auf dem Boden sind rote Teppiche ausgerollt, vor dem schlichten Bronzekreuz auf dem Altar stehen bunte Jesus- und Erzengel-Michael-Bilder. Ein Mariengemälde ist mit einer Lichterkette geschmückt. Der Bereich hinter dem Altar ist mit einem roten Vorhang abgehängt, der das Allerheiligste kennzeichnet, zu dem nur die Priester Zugang haben. Dort werden verhüllte Tafeln mit den Zehn Geboten aufbewahrt.

Zum nächtlichen Beginn des Jahrhunderte alten Ritus war nur eine Handvoll Frühaufsteher da. Die meisten kommen wie Frewoini zwischen 7 und 8 Uhr. "Früher schaffe ich es einfach nicht", sagt sie. Um 8 Uhr ist es schließlich so voll, dass viele Besucher keinen Sitzplatz mehr finden und sich dicht an dicht in den Gängen drängen. Da sie ohnehin alle während des ganzen Gottesdienstes stehen, ist das nicht weiter schlimm. Vor dem Altar steht ein Priester und schwenkt ein Weihrauchfass, an dem zahlreiche Glöckchen befestigt sind. Die monotone Melodie des Gebets, das er singt, erinnert ein wenig an den Ruf eines Muezzins.

Taufe in einer Plastikwanne

Einige Besucher singen leise mit, andere sind im Gebet versunken, und manche schauen gelangweilt zu Boden. "Die meisten verstehen gar nicht, was der Priester singt", sagt Frewoini. Gottesdienstsprache ist Altäthiopisch, das längst nicht mehr aktiv gesprochen wird.

Plötzlich mischen sich weitere Gesänge mit denen des Priesters am Altar. Im rechten Seitenschiff hat eine Taufe begonnen - parallel zum Hauptgottesdienst. Mehrere Familien haben sich um ein provisorisches Taufbecken versammelt, das aus einer Plastikbadewanne auf einem Holztisch besteht. Ein Priester im roten Gewand leitet die Zeremonie; Diakone halten fünf splitternackte Säuglinge, die heute in die Gemeinde aufgenommen werden sollen. Der Priester taucht ein goldenes Kreuz in das Taufwasser und singt ein Gebet. Schließlich packt er jedes einzelne Kind und taucht es mit einer schwungvollen Bewegung drei Mal ins Wasser ein. Einige Kinder beginnen zu schreien. Mit einem Lächeln nehmen die am Rand sitzenden Mütter ihre frisch getauften Kinder wieder an sich und beruhigen sie. Die Kirche hat fünf neue Mitglieder.

"Große Herausforderung"

Die eritreische Gemeinde in Hamburg, die offiziell rund 500 Seelen zählt, war nicht immer so groß wie heute: 2003 wurde sie von einigen Auswanderern gegründet, wie einer von ihnen, Tsegai Mebrahtu, berichtet. Zu den Gottesdiensten kamen in den ersten Jahren maximal 60 bis 70 Leute; Priester reisten nur ein bis zwei Mal im Jahr aus Süddeutschland an. "Durch die Flüchtlingskrise hat sich unsere Gemeinde verändert", erzählt der 58-Jährige, der dem Gemeindevorstand angehört. Vor allem im Jahr 2015 sei die Zahl enorm angestiegen. "Das war für uns eine große Herausforderung."

Die alte orthodoxe Kirche, in der bisher Gottesdienst gefeiert wurde, war auf einmal zu klein. Durch persönliche Kontakte stieß man schließlich auf die evangelische Tabita-Gemeinde in Ottensen, die die Eritreer gastfreundlich aufnahm. Aber auch die Integration der neuen Mitglieder war anstrengend. "Man musste ihnen alles erklären. Das fing bei Kleinigkeiten an", sagt Mebrahtu, der seit über 30 Jahren in Deutschland lebt. Es habe beispielsweise lange gedauert, den Neuankömmlingen klar zu machen, dass sie ihre Schuhe aus Brandschutzgründen nicht am Eingang abstellen dürfen, sondern in den Plastiktüten verstauen müssten.

Allerdings brachte der Zustrom auch Vorteile für die Gemeinde: "Wir haben jetzt sechs eigene Priester." Auch sie kamen als Flüchtlinge nach Deutschland und arbeiten nun ehrenamtlich in der Kirche. Einer von ihnen ist der 29-jährige Mengstab Aray, der noch in einer Erstunterkunft in Schleswig-Holstein lebt und noch keine Aufenthaltsgenehmigung hat. "Als ich nach Hamburg kam, war ich überrascht, dass es eine so große eritreische Gemeinde hier gibt", sagt er. Die Arbeit in der Kirche sei eine willkommene Abwechslung zum Alltag im Flüchtlingslager.

Weihwasser-Dusche

Nachdem die Kommunion ausgeteilt ist und ein Kinder- sowie ein Erwachsenenchor aufgetreten sind, muss Aray im heutigen Gottesdienst die Schlusspredigt halten. Er spricht über das Fasten und die verschiedenen Arten des Verzichts - jetzt auf Tigrinya, der Umgangssprache der Eritreer, in der ihn jeder hier versteht. Während der Predigt hält er ein kleines Kreuz in der Hand, mit dem er wild gestikuliert. Er hebt und senkt seine Stimme, wird immer wieder sehr laut und lacht zwischendurch. 45 Minuten dauert seine Ansprache, während der einige Besucher in ihren Bänken einnicken. Danach geht er durch die ganze Kirche und besprengt die Leute mit Weihwasser. Tsegai Mebrahtu muss lachen, als der junge Priester ihn segnet – und bekommt prompt eine Extra-Dusche, so dass ihm das Weihwasser durchs Gesicht läuft. Grinsend zieht Aray weiter durch die Menge.

Die löst sich nun langsam auf, alle ziehen ihre Schuhe wieder an und verlassen das Gotteshaus. Inzwischen ist es 11 Uhr – sechseinhalb Stunden hat die gesamte Zeremonie gedauert. Warum wird so lange gefeiert? "Das ist unsere Tradition", sagt Isaac Frewoini, die noch mit einigen anderen Frauen zum Gespräch zusammensteht. "Wenn man damit aufgewachsen ist, sind vier oder fünf Stunden kein Problem." Natürlich sei sie zwischendurch mal müde. "Aber dann setze ich mich kurz an den Rand, und dann geht es wieder." Im Gottesdienst fühle sie sich wie zu Hause. "Wenn ich danach heimkehre, dann spüre ich diese innere Ruhe in mir."


Quelle:
KNA