domradio.de: Sie waren schon in Somalia und im Jemen. Vor diesem Hintergrund: Wie beschreiben Sie die Zustände auf dem Balkan?
Felix Wolf (Balkan-Koordinator der Hilfsorganisation Care): Es ist mit dem schlechter werdenden Wetter inzwischen so, dass sich die Flüchtlinge durch unbeschreiblich schlechte Bedingungen schlagen müssen. Der Vergleich mit anderen großen Katastrophen wie in Somalia und im Jemen, wo es auch viele Flüchtlinge gibt, ist insofern interessant, weil das klassische Entwicklungsländer sind, bei denen man von verherrend schlechten Bedingungen ausgeht. Hier geht es jetzt aber um eine Flüchtlingskrise in Europa.
Natürlich sind die Flüchtlinge in keiner Weise auf das sich dramatisch verschlechternde Wetter eingestellt. Die Leute sind teilweise in Sandalen unterwegs und sehr leicht bekleidet. Sie sind ja mit den paar Sachen geflohen, die sie am Leib tragen können. Häufig legen sie ja auch längere Strecken zu Fuß zurück. Wir sehen Menschen, die im Dreck und in Pfützen sitzen müssen, die frieren, die keine Decken und keine Winterjacken haben. Wir rechnen damit, dass sich die Situation noch dramatisch verschlechtert und es dadurch zu gesundheitlichen Schwierigkeiten kommt. Wir rechnen auch damit, dass sich Grenzen immer mal wieder öffnen und schließen und dadurch ein Rückstau in Serbien und Kroatien entstehen kann.
domradio.de: Lange Zeit waren hauptsächlich junge Männer auf der Balkanroute unterwegs. Jetzt sind es zunehmend auch Frauen mit kleinen Kindern und Babys. Woher kommt diese Veränderung?
Wolf: Das haben wir noch nicht rausgefunden. Care hat das aber tatsächlich vor Ort beobachtet. Ich vermute, dass die Menschen über die sozialen Netzwerke und die Medien sehen, dass es möglich ist, nach Europa und nach Deutschland zu kommen. Und das ermutigt wohl viele von ihnen, ihre Familien mitzunehmen. Viele sind sich auch nicht sicher, ob es angesichts der großen Flüchtlingszahlen im Nachhinein möglich sein wird, Familien zusammenzuführen. Und auch im Nahen Osten ist es im Winter ja kalt. Die Leute sitzen dort häufig im Freien in Zelten und frieren erbärmlich und sind unterversorgt. Da denken sich viele Flüchtlinge, dass sie in Syrien und in der Region sowieso keine Zukunft haben.
domradio.de: Am Sonntag findet in Brüssel ein Sondergipfel der EU statt. Welchen Appell haben Sie an die Regierungschefs, die bislang eher in kleinen Schritten vorangekommen sind?
Wolf: Das große Problem, das Hilfsorganisationen wie Care im Moment haben, ist, dass völlig unabsehbar ist, wie sich die Situation in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird. Davon sind auch die Behörden beispielsweise in Serbien und Kroatien betroffen, die auch nicht wissen, wie es weitergeht. Es ist ganz klar, dass der Flüchtlingsstrom anhält. Die Leute kommen weiter in Griechenland an und bewegen sich weiter Richtung Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien. Es gibt keinerlei Aufnahmelager. Die Menschen werden an den Grenzen im Dreck sitzengelassen. Es gibt ganz wenig Versorgung und Unterstützung für die Flüchtlinge. Und deswegen kann der Appell an die Politik nur der sein, einerseits Mittel für die humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen und andererseits einen Plan zu entwickeln, wie die Flüchtlinge legal in Sicherheit kommen können. So wie wir im Moment die Situation beobachten, bahnt sich eine große humanitäre Katastrophe auf dem Balkan an, wenn die Leute im Winter auf der Route stecken bleiben.
Das Interview führte Dr. Christian Schlegel.