DOMRADIO.DE: Sie sind gerade im ukrainischen Butscha. Der Ort hat zweifelhafte Berühmtheit bekommen, als Ort eines der schwersten Massaker an der Zivilbevölkerung. Was merkt man davon heute noch?
Steffen Feldmann (Vorstandsmitglied des Deutschen Caritasverbandes, z. Zt. in der Ukraine): Wir sind gerade durch Butscha durchgefahren und haben da gegessen. Wenn man auf der Straße steht, würde man wahrscheinlich nichts merken. Aber wir haben bei unseren ukrainischen Kollegen und Kolleginnen eine deutliche Beklemmung und Betroffenheit gemerkt.
Man merkt das an der Körpersprache und an Worten. Man merkt es an deren Lautstärke und an deren Stimmen, dass das immer noch nachträgt. Wenn man sich das noch mal anguckt, gab es fast 500 Zivilopfer. Das ist völlig verständlich.
DOMRADIO.DE: Sie sind seit Montag im Land unterwegs. Was erzählen die Menschen vom Alltag in der Ukraine?
Feldmann: Wenn man die Sonnenbrille aufsetzt und die Augen ein bisschen zusammendrückt, dann ist der Alltag wahrscheinlich so, wie wir ihn woanders erleben. Die Busse und Autos fahren. Es gibt alles zu kaufen. Menschen gehen zur Arbeit und man kann essen gehen.
Abends ist die Straßenbeleuchtung an. Aber das wesentliche Element des Tages ist die Frage, ob es einen Luftalarm gibt oder nicht. Das ist technisch so geregelt, dass jeder eine App dafür auf dem Handy hat. Deswegen merkt man sofort, ob es in der Region einen Luftalarm gibt. Es wird beschrieben, welche Intensität der haben kann. So kann man schnellstmöglich aufbrechen und die Keller aufsuchen, in denen man geschützt ist.
Das ist uns ein paar Mal passiert. Das bestimmt das Leben. Aber wir merken bei den Ukrainern und Ukrainerinnen und bei unseren Kolleginnen und Kollegen, dass sie ein möglichst normales Leben führen wollen. Das merkt man deutlich an deren positiver Attitüde.
DOMRADIO.DE: Sie haben selber einen Bombenalarm erlebt. Sie mussten kurz nach ihrer Ankunft im Land in den Bunker gehen. Wie erlebt man so was und was geht einem durch den Kopf?
Feldmann: Wir waren die erste Nacht in Lwiw. Nachmittags war Luftalarm. Es war aber nur Alarm. Es ist nichts passiert. Wir sind im Hotel in den Schutzraum gegangen. Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Meine Großeltern haben mir immer von Luftalarm erzählt. Die sind an Silvester immer noch zusammengezuckt. Im Ruhrgebiet waren nicht wenige Angriffe. Da ist man schon ein bisschen beklommen.
Kolleginnen und Kollegen der Caritas, die das häufiger erleben, können sicherlich professioneller damit umgehen oder wissen, was passiert. Ich war selber in der Situation, dass ich mir das erst einmal angucken musste. Ich war aber in der Weise beruhigt, dass wir eine intensive Sicherheitseinführung durch Profis hatten, die wissen, was man wo wie macht.
Es war klar, dass man immer weiß, wo der nächste Schutzraum ist, dass man sein Telefon am Körper hat. Das ist eine große Beruhigung. Denn bei aller Solidarität, die wir zeigen wollen, liegt es uns fern, uns in irgendeiner Weise über die Maßen in Situationen zu bringen, die nicht mehr beherrschbar sind.
DOMRADIO.DE: Die Caritas in der Ukraine unterstützt unter anderem Binnenflüchtlinge. Das sind Menschen, die das Land nicht verlassen haben, sondern in der Ukraine in eine andere Region geflohen sind. Wie ist ihre Situation im Moment und was für Hilfen brauchen sie?
Feldmann: Die Kollegen der Caritas Ukraine und der Caritas Spes, den zwei Verbänden in der Ukraine, haben die Binnenflüchtlinge, die sogenannten IDPs (Internal Displaced Persons, Anm. d. Red.), deutlich im Fokus. Wir freuen uns, dass wir vorgestern in Kiew ein psychosoziales Zentrum der Caritas eröffnen durften. Das wurde durch unsere Unterstützung und insbesondere durch die Unterstützung des Erzbistums Freiburg errichtet. Wir merken damit, mit welch großer Quantität und vor allem Qualität die Kollegen hier mit den Menschen in die Beratung gehen. Das hat uns sehr beeindruckt.
DOMRADIO.DE: Ihre Hilfen unterstützen konkret Menschen vor Ort, die dort leben und sterben. Was erzählen sie Ihnen? Welche Rolle spielt diese Hilfe für die Menschen in der Ukraine?
Feldmann: Wir haben gemerkt, dass die Solidarität unsererseits für die Menschen in der Ukraine unfassbar wichtig ist. Es ist wichtig zu sagen, dass wir für sie da sind.
Wir bauen jetzt die Strukturen für die Zeit danach auf, wann immer das auch ist und was danach auch immer heißt. Dass wir uns nicht zurückziehen, ist für die Kolleginnen und Kollegen und für die Menschen in der Ukraine, mit denen wir gesprochen haben, das stärkste Zeichen, was wir setzen können.
Ihr seid nicht alleine. Es geht weiter. Es gibt Grund für Hoffnung. Das haben wir so erfahren. Das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt an dieser Stelle. Deswegen sind wir sehr froh, dass wir die Reise angetreten haben.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.