Caritas International über den Einmarsch der Türkei in Syrien

"Die Türkei greift hier einen anderen Staat an"

Es ist ein militärischer Flächenbrand, der im Moment an der Grenze Syriens zur Türkei ausbrechen könnte. Vor wenigen Stunden hat die Türkei eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet. Doch was passiert dort gerade?

Archiv: Türkische Truppen an syrischer Grenze  / © Str (dpa)
Archiv: Türkische Truppen an syrischer Grenze / © Str ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was ist der Hintergrund der aktuellen Entwicklung?

Christoph Klitsch-Ott (Referatsleiter Naher Osten bei Caritas International): Die Kurden sind ein großes Volk. Bei der Aufteilung dieser Region nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedene Staaten haben sie keinen eigenen Staat erhalten. Sie leben in Syrien, Nordsyrien, im Südosten der Türkei, teilweise im Irak und eine kleine Gruppe im Iran. Und sie haben sich in den letzten Jahren eine gewisse Autonomie in Nordsyrien erkämpft - natürlich auch mit Unterstützung der Amerikaner. Sie haben die Hauptlast getragen im Kampf gegen den IS. Sie haben Syrien im Prinzip fast im Alleingang davon befreit und hatten in letzter Zeit eigentlich dort im Nordosten Syriens relative Ruhe. Das droht jetzt alles zusammenzubrechen.

DOMRADIO.DE: Weil die Amerikaner jetzt weg sind und sie keine Schutzmacht mehr haben und die Türkei einmarschiert ist. Was bezweckt denn die Türkei oder was bezweckt Erdoğan mit so einem Militärschlag?

Klitsch-Ott: Zum einen hat Erdoğan oder hat die Türkei Angst, dass sich dort wirklich ein unabhängiger kurdischer Staat bildet, der dann natürlich auch Unterstützung für die Kurden in der Türkei liefern könnte. Es wird den syrischen Kurden unterstellt, dass sie die PKK in der Türkei unterstützen. Die PKK wird als Terrororganisation eingestuft. Und Erdoğan hat angekündigt, in dieser Region, in die er jetzt einmarschiert, dort eine mindestens 35 Kilometer breite Schutzzone zu etablieren, in die er die vielen syrischen Flüchtlinge zum Teil rücksiedeln will.

DOMRADIO.DE: Die Kurden haben eine relativ große Rolle im Kampf gegen den IS gespielt. Amerika ist die große Schutzmacht. Wir haben auch über deutsche Waffenlieferungen an die Peschmerga diskutiert. Angela Merkel hat die Kurden als mutige Kämpfer bezeichnet. Und jetzt hat man so ein bisschen den Eindruck, dass sie von heute auf morgen international fallen gelassen werden. Ist es der richtige Eindruck?

Klitsch-Ott: Ja, ich denke, das ist die richtige Interpretation. Die Kurden, das muss man klar und deutlich sagen, haben letztendlich für uns, den Westen, sowohl in Syrien wie im Irak die Kohlen aus dem Feuer geholt. Sie haben Unterstützung bekommen in Form von Waffenlieferungen oder durch Spezialkräfte der amerikanischen Armee. Aber im Wesentlichen sind es die Kurden gewesen. Wir sollten nicht vergessen: Auf dem Gebiet, das jetzt von Erdoğan angegriffen wird, gibt es ja noch große Flüchtlingslager mit IS-Kämpfern, mit ehemaligen Anhängern oder Noch-Anhängern des IS, vielen ausländischen Kämpfern, die derzeit noch in kurdischen Lagern und Gefängnissen sitzen. Was mit ihnen passiert, weiß kein Mensch.

DOMRADIO.DE: Türkische Militäroffensiven gegen die Kurden gab es ja 2016 bereits zweimal. Ohne große Folgen. Jetzt befürchtet man, dass es zu einem militärischen Flächenbrand führen könnte. Wie schätzen Sie das ein?

Klitsch-Ott: Das ist natürlich schwer einzuschätzen. Richtig ist, dass die türkische Armee schon im Nordwesten in Afrin seit längerer Zeit ein Stück Syriens besetzt hält. Und nach allen vorliegenden Informationen letztendlich auch versucht, das zu einem Teil der Türkei zu machen. Die Türkei greift hier einen anderen Staat an. Ob die Kurden in der Lage sind, sich der türkischen Armee zu widersetzen, ist natürlich schwer abzuschätzen. Aber nach meiner Einschätzung - und da sind sicherlich viele andere Analysten gleicher Meinung - werden die Kurden ihr Gebiet nicht kampflos aufgeben.

DOMRADIO.DE: Sie kennen sich in der Region aus. Sie sprechen für Caritas International. Welche Rolle spielen denn die Hilfen? Oder anders ausgedrückt: Was machen denn wir als Christen, was macht die Caritas in dieser Region? Wie werden die Menschen unterstützt?

Klitsch-Ott: Es gibt eine Reihe von Hilfsorganisationen, die im syrischen Kurdistan arbeiten können. Es ist schwierig, weil der Zugang fast nur über die Türkei möglich ist. Caritas Syrien hat auch Büros in zwei größeren Städten im Nordosten. Das ist ganz im Nordosten, wo wir vor allen Dingen im medizinischen Bereich Unterstützung leisten.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Quelle:
DR