domradio.de: Bei der Pressekonferenz von Kanzlerin und Ministerpräsidenten schienen alle Beteiligten recht zufrieden zu sein. Ist der Kompromiss, der gestern gefunden wurde, die richtige Antwort auf die gegenwärtige Herausforderung?
Prälat Dr. Peter Neher (Präsident des Deutschen Caritasverbandes): Da muss man natürlich schon genauer hinschauen. Zum einen ist sicher zu begrüßen, dass der Bund eine größere Verantwortung übernimmt. Es sind auch einige absolut sinnvolle Entscheidungen, wie die Möglichkeit der legalen Arbeitsmigration für Menschen aus dem Westbalkan. Völlig inakzeptabel aus unserer Sicht ist aber, dass diejenigen, die Schutz suchen und in der Prüfung ihres Antrags sind, mit Sachleistungen - sage ich jetzt mal - schickaniert werden sollen. Damit lösen wir die anstehenden Probleme nicht. Wir verkomplizieren sie eigentlich und den Menschen, die betroffen sind, nehmen wir mir etwas Bargeld auch ein Stück individueller Lebensgestaltung.
domradio.de: Wie bewerten Sie die Entscheidung zur Ausweitung der "sicheren Herkunftsländer"? Es ist ja durchaus so, dass man nun klar sortieren kann: Wer hat Chancen auf Asyl, wer nicht. Gleichzeitig wird man nicht denjenigen gerecht, die nun sagen: Wir wollen hier ein besseres Leben in Deutschland.
Prälat Neher: Das ist ein grundsätzliches Problem des Systems "sichere Herkunftsländer". Denn das Problem ist, dass man mit dieser Einstufung eigentlich meint, das Ergebnis eines individuellen Asylverfahrens vorwegnehmen zu können. Und das geht nicht. Asyl ist immer individuelles Recht. Und außerdem kenne ich noch keine Beweise dafür, dass die Eingruppierung als ein sicherer Herkunftsstaat tatsächlich zu geringeren Antragszahlen führt. Ich denke eher, dass wir bei diesem Personenkreis nochmal stärker darauf achten müssen, die Möglichkeiten der legalen Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu verstärken. Insofern ist die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsländer natürlich im System folgerichtig. Aber die Grundfrage bleibt, ob es die richtige Antwort auf die Probleme ist, mit diesem System das Thema zu bewältigen.
domradio.de: Die Probleme sind ja eigentlich schon länger da. Einerseits das des demografischen Wandels, dass es Einwanderung eigentlich geben muss. Und dass es Flüchtlinge gibt, die unter anderem über´s Mittelmeer hierher wollen, das ist auch klar. Dennoch scheint jetzt alles überraschend und wird im Prinzip auch ad hoc entschieden. Warum wird in solchen Fragen immer erst im Krisenmodus entschieden, was glauben Sie?
Prälat Neher: Das ist eine schwierige Frage. Es ist seit langem bekannt, dass die wirtschaftliche Situation auf dem Balkan relativ hoffnungslos ist. Die Problematik im Mittleren und Nahen Osten hat sich natürlich langsam entwickelt. Aber wer direkt vor Ort war - wie wir mit unserer Auslandsarbeit in Syrien, aber auch in Jordanien oder im Libanon - der konnte erkennen, dass diese Länder sehr schnell an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit stoßen werden. Das ist ja auch einer der Gründe, warum so viele aus den Krisengebieten kommen. Weil die Nachbarstaaten nicht mehr in der Lage sind, die Zahl der Flüchtlinge zu bewältigen. Deutschland hat in den letzten Jahren wie alle europäischen Länder sträflich vernachlässigt, was an weltweiten Flüchtlingsströmen schon lange unterwegs ist und hat in den letzten Jahren sogar die entsprechenden Einrichtungen abgebaut. Das rächt sich natürlich bitter. Allerdings muss ich die Politik auch in Schutz nehmen. In dieser Dramatik, in der die Situation gerade eskaliert, war sie nicht abzuschätzen.
domradio.de: Sind die Entscheidungen, die gestern gefallen sind, aus Ihrer Perspektive genug oder muss noch nachgebessert werden?
Prälat Neher: Ich denke, es sind wichtige Entscheidungen. Aber die genannten Bereiche der Verschärfung führen nicht weiter. Was wir wirklich brauchen, ist die Unterstützung der vielen Ehrenamtlichen. Sie werden zwar von allen gewürdigt und gewertschätzt. Allerdings brauchen sie auch eine professionelle Unterstützung. Gerade angesichts der oft schwer traumatisierten Menschen, vieler Frauen und Kinder, braucht es entsprechende Hilfe, um mit diesen Dingen umzugehen. Was jetzt ansteht, sind nach der Nothilfe tatsächlich Maßnahmen zur Integration für diejenigen, die bei uns bleiben können. Dazu gehören die Themen: Kindergartenbesuch, Schulbesuch, Arbeit, Wohnung. Da sind einige Weichen gestellt, aber es wird sicherlich nicht beim letzten Gipfel geblieben sein. Das alles wird uns in der nächsten Zeit noch heftig beschäftigen.