KNA: Herr Vogel, beschreiben Sie uns bitte einmal den Menschen Karl Lehmann.
Vogel: Er war in jeder Hinsicht bemerkenswert und ungewöhnlich. Mit ihm führte ich über Jahrzehnte die interessantesten und inhaltsreichsten Gespräche. Beim Abschied freute ich mich schon auf die nächste Begegnung.
KNA: Was machte ihn für Sie so sympathisch?
Vogel: Dass er als junger Professor und als Bischof einer der ältesten und bedeutendsten Diözesen sowie als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz Mensch geblieben ist. Er hat sich nie hinter Ämter zurückgezogen und war offen für jedes Gespräch.
KNA: Welche Situationen haben Sie ganz besonders in Erinnerung?
Vogel: Eines Tages - wohl im Herbst 1967 - kam der spätere Kardinal Friedrich Wetter als Professor in Mainz zu mir – in der Hand einen überquellenden Aktenordner mit Lehmanns zweiter Promotion. Er bat mich, den Text zu lesen und Lehmann zu seinem Nachfolger zu berufen.
Und ich weiß noch, wir waren mit dem Auto auf dem Weg von Warschau nach Danzig, ein deutscher Sender war nur mühsam zu empfangen. Als wir dann doch in den Nachrichten von Lehmanns Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz erfuhren, hat unser Fahrer vor Freude fast die Gewalt über das Auto verloren.
Wir mussten sogar eine Strafe zahlen. In einer der finstersten Stunden meines Lebens, als ich 1988 auf dem CDU-Landesparteitag unterlag, hat Lehmann mich als einer der ersten besucht und mir Trost und Mut zuzusprechen versucht.
KNA: Welche Leistung sehen Sie für die katholische Kirche in Deutschland?
Vogel: Karl Lehmann hat zwei Leben in einer Person verwirklicht: Er war ein herausragender Wissenschaftler und gleichzeitig eine den deutschen Katholizismus 40 Jahre prägende Figur. Er sagte nicht nur, Theologie sei die interessanteste Wissenschaft, er lebte es auch.
Wobei seine Zuhörer in Kauf nehmen mussten, dass seine Ansprachen keine leichte Kost waren. Er nahm die Zuhörer bei seinen kürzeren oder längeren Vorlesungen in die Pflicht. Ihm selbst war die Fähigkeit gegeben, bei langen Veranstaltungen einzunicken.
KNA: Themenwechsel. Mit Blick auf die Weltkirche...
Vogel:... besteht an seiner Papst- und Romtreue kein Zweifel. Gleichwohl hatte er wie wenige den Mut zu widersprechen und musste dafür in Kauf nehmen, erst unverhältnismäßig spät zum Kardinal kreiert zu werden.
KNA: Es gab Einschätzungen, wegen der vielen überdiözesanen Funktionen habe er sein Bistum vernachlässigt.
Vogel: Diese Auffassungen wurden gelegentlich geäußert. Ich bin anderer Meinung. Durch seine Rolle in Deutschland und der Welt hat er mehr zum Ruf des Bistums beigetragen, als wenn er sich nur um Mainz gekümmert hätte.
KNA: Wo sehen Sie die Leistung des Theologen Lehmann?
Vogel: Den Lehrersohn aus Sigmaringen hat er nie verleugnet. Er räumte dem Dialog zwischen Wissenschaft und Glaube großen Raum ein. Beides war für ihn kein Widerspruch, sondern gegenseitige Bedingung. Unvergessen ist mir sein Bischofshaus mit riesigen Mengen an Büchern. So etwas habe ich nie wieder gesehen.
Seine Tausenden von Publikationen zeigen – er hat sie gelesen und genutzt. Er hat das Zentralkomitee als Vertretung der Laien geachtet und ist ihm beigesprungen, wenn Hilfe nötig war. Auch gegenüber anderen Kardinälen. Und es darf nicht vergessen werden: Karl Lehmann war ein großer Ökumeniker.
Michael Jacquemain