Claudia Roth über die Flüchtlingsproblematik in Nordafrika und die Rolle der Kirche

"Europa muss Solidarität leisten"

Die Unruhen in den nordafrikanischen Ländern haben längst auch Auswirkungen auf Europa. Tausende Flüchtlinge kommen über die festen Grenzen und übers Meer. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth ist derzeit auf einer viertägigen Reise nach Tunesien und Italien unterwegs, um sich über das Flüchtlingsproblem zu informieren. Im domradio.de-Interview lobt sie auch das Engagement die der Kirche.

 (DR)

domradio.de: Guten Tag, Frau Roth. Sie besuchen mehrere Flüchtlingscamps auf tunesischer und auch italienischer Seite. Heute Morgen haben Sie das Auffangzentrum Shousha an der libyschen Grenze besucht. Welche Eindrücke haben Sie von den Bedingungen, unter denen die Menschen dort leben?

Claudia Roth: Wir sind noch nicht in dieses Flüchtlingslager gekommen, wir fahren jetzt unmittelbar nach unserem Gespräch los. Zuallererst erleben sie in Tunesien ein Land, in dem eine ganze Gesellschaft für eine demokratische Zukunft kämpft, wo eine junge Generation und die Älteren, die wir getroffen haben, das Land vor der Diktatur gerettet haben. Zwar ist der Funke am 17. Dezember im letzten Jahr losgesprungen und jetzt am 24. Juli sollen Wahlen stattfinden, aber wie die Leute sagen: "Wir sind noch lange nicht am Ziel.’ Deswegen müssen wir helfen - politisch, ökonomisch, auf allen Ebenen. Und: Wir müssen diesem Land vor allem auch helfen, wenn es um die solidarische Flüchtlingsaufnahme geht. Schauen Sie: Die Gesundheitsministerin hat uns gestern erzählt, dass es schon über 200.000 Flüchtlinge in Tunesien gibt. Wir haben gestern erfahren, dass gerade aus Libyen über 3.500 Familien gekommen sind, also weit über 5-6 Tausend Menschen, zum Teil mit erheblichen Verletzungen, die absolut unmittelbare Hilfe brauchen. Und sie kommen in ein Land, das selbst in einem unglaublichen politischen Umbruch steckt, das selbst ökonomisch nichts hat. Und jetzt erfährt Tunesien, dass Europa keine Solidarität leistet, dass Europa sich wie eine Festung abschottet und dass von Nächstenliebe, von nachbarschaftlicher Unterstützung rein gar nichts zu spüren ist.



domradio.de: Welcher Unterstützung bedarf es jetzt denn gerade bezüglich der Demokratiebewegung der Jungen in dem Land?

Roth: Also die Demokratiebewegung braucht Anerkennung, man muss denen jetzt helfen beim Aufbau von demokratischen Institutionen. Hier sind auch die Partnerstädte, wie zum Beispiel Köln, zu mobilisieren, Brücken zu bauen. Köln ist Partnerstadt von Tunis, Münster von Monastir - also dabeisein und helfen lautet das Gebot der Stunde! Zweitens: ökonomische Hilfe. Die jungen Menschen, die diese Revolution der Würde, so nennt man das hier, ja begonnen haben, die sagen: "Wir wollen Zukunft, wir wollen einen Job, wir wollen eine Perspektive.’ Diese Menschen sind oft sehr, sehr gut ausgebildet. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien, für eine andere Energiepolitik und -wirtschaft gäbe es viele, viele Möglichkeiten. Wir haben dort zum Beispiel Angst, dass Herr Sarkozy kommt und Tunesien Atomkraftwerke verkaufen will, wo sie doch Sonne, Wind etc. zur Energieerzeugung haben. Man hat uns gesagt: "Bitte, bitte erzählt in Europa, dass es hier friedlich ist, dass die Revolution friedlich war.’ Die Menschen wollen, dass endlich wieder Touristen ins Land kommen, weil das natürlich auch eine wirtschaftliche Unterstützung darstellt. Aber es braucht auch eine finanzielle Unterstützung, zum Beispiel für all diejenigen, die als Flüchtlinge nach Tunesien kommen. Und vor allem muss man doch unterstützen, wenn der Hohe Flüchtungskommissar der UNO, Antonio Gutierrez, sagt: "Europa, nehmt bitte wenigstens die Flüchtlinge aus den schwarzafrikanischen Ländern auf, die man nicht zurückschicken kann, weil ihr Leib und Leben nicht in Sicherheit wäre. Also da geht es um 10 oder 12 Tausend Menschen, unter anderem aus Eritrea, darunter zahlreiche Christen. Und dann sagt dieses Europa, diese EU: "Nein, wir sind überfordert von 10.000 Menschen. Und Tunesien, das nichts hat und sich in einem Umbruch befindet, hat schon über 200.00 aufgenommen. Also wissen Sie, wir erleben hier Unverständnis, auch Traurigkeit über eine zynische Verweigerung von humanitärer und menschlicher Solidarität.



domradio.de: Was halten Sie denn diesbezüglich von dem jüngsten Vorstoß, das Schengen-Abkommen zu verschärfen?  

Roth: Gar nichts! Ich halte davon überhaupt gar nichts, denn natürlich sind die flüchtenden Menschen aus Libyen, aus schwarzafrikanischen Ländern, wo sie unterdrückt und gequält werden, nicht Flüchtlinge Tunesiens oder nur Italiens und Frankreichs, wobei Italien mit 20.000 Flüchtlingen mit Verlaub gesagt auch nicht an seine Grenzen stößt, sondern es ist eine europäische Verantwortung. Wir müssen doch als Europäer sagen: "Es geht hier um unsere Nachbarschaft.’ Und wir können doch nicht das tun, was man vor ein paar Monaten noch als falsch betrachtet hat, nämlich jetzt schon wieder zu beginnen zu sagen: "Ihr müsst Menschen nach Tunesien zurücknehmen, Ihr müsst Rückübernahmeabkommen eingehen, Ihr müsst einen Schutzwall errichten, damit Menschen, die Hilfe und Zuflucht suchen, nicht nach Europa kommen. Das halte ich für so was von falsch, ich kann es Ihnen gar nicht sagen. Also bräuchte es eine europäische Flüchtlingspolitik, die solidarisch Flüchtlinge in Europa aufnimmt und auch solidarisch verteilt. Die dadurch entstehende Belastung muss unter den Mitgliedsländern verteilt werden. Und wir bräuchten auch eine moderne Einwanderungspolitik für Menschen, die sagen: "Wir wollen hier studieren oder arbeiten, um etwas zu lernen, das dann für unsere jungen Demokratien den Wiederaufbau erleichtert. Alledem verweigert sich Europa. Und ich glaube, dass ist ja auch die Haltung des deutschen Innenministers und wird teilweise von der Bundesregierung mit getragen, zu sagen, jetzt werden wieder die Schengen-Grenzen oder die innereuropäischen Grenzkontrollen eingeführt. Damit wird auch Europa mehr und mehr gegen die Wand gefahren, denn es war doch ein großes Ziel und ein großes Versprechen, dass es in diesem Europa nicht nur die Freizügigkeit von Kapital, Waren und Dienstleistungen geben soll, sondern eben auch von Menschen. Ich habe jetzt auf dieser Reise gehört, dass die Menschen in Tunesien, mit denen wir gesprochen haben, meinten: "Aber Flüchtlinge sind doch keine Feinde! Und wir sind doch Eure Nachbarn. Wo ist die Solidarität, wo ist die Nächstenliebe, wo ist - so frage ich ganz bewusst - das christliche Verantwortungsbewusstsein? Denn noch einmal: Es sind auch Christen unter den Verfolgten, die Hilfe suchen. Und dass auf die Worte Papst Benedikts überhaupt nicht gehört wird, ist auch bemerkenswert schäbig.



domradio.de: Wie verantwortungsvoll verhält sich in diese Sache Ihrer Meinung nach die deutsche Bundesregierung?

Roth: Auch nicht verantwortungsvoll. Also die Bundesregierung hat Mittel zur Verfügung gestellt, das muss man sagen, etwa drei Millionen für den UNHCR, also die Organisation, die sich jetzt auch hier um Flüchtlinge kümmert - wir werden sie gleich treffen. Aber mit Geld allein ist es einfach nicht getan. Die Bundesregierung könnte sehr viel mehr tun, um den politischen Prozess zu unterstützen, und nicht so tun, als wäre Tunesien gar kein Problem mehr. Und die Bundesregierung, ja Deutschland müsste sagen: "Wir wissen, was Schutz gewähren bedeutet, wir wissen, was Verantwortungsbewusstsein bedeutet, und wir wollen doch, dass es in Tunesien, in Nordafrika ein Vorbild gibt, dass eine friedliche Revolution gelingen kann, und dass man die Menschen, die vor Gaddafi fliehen, aufnimmt. Europas Humanität stirbt auch daran, wenn jetzt ein Festungswall errichtet würde, und zwar wenn wir diese jungen Demokratien wie Tunesien allein lassen würden.