Unter dem Motto "Europa kann mehr!" fordern mehrere deutsche Forschungsinstitute in ihrem diesjährigen "Friedensgutachten" ein stärkeres Engagement der EU für den Frieden.
Dazu gehörten etwa neue Akzente im Verhältnis zum sogenannten Globalen Süden, die Stärkung der Demokratie im Innern und Äußeren sowie kreative Ansätze für nahe Konfliktzonen in Osteuropa und im Südkaukasus. "Europa kann mehr und es muss mehr können wollen", bilanzieren die Wissenschaftler.
"Die Europäische Union reagiert auf zu viele friedenspolitische Krisen und Konflikte nach wie vor zu zögerlich", kritisierte HSFK-Forscherin Nicole Deitelhoff am Dienstag bei der Vorstellung des Gutachtens in Berlin. Zu oft werde die EU intern gelähmt durch bürokratische Hürden oder gehemmt durch autoritäre Umtriebe in manchen Mitgliedsländern. "Zu oft agiert sie nach außen als weltpolitischer Zaungast und nicht als Ordnungsmacht von globalem Rang."
Analyse von Konflikten und Entwicklungen
Hinter dem Friedensgutachten stehen das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC), das Leibniz-Institut Hessische Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) und das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Seit 1987 analysieren die Forscher Jahr für Jahr aktuelle Konflikte und Entwicklungen der internationalen Politik. Zudem geben sie Empfehlungen insbesondere an Bundesregierung und EU.
"Jeder verhinderte Gewaltkonflikt ist günstiger als alle Rüstungsausgaben, um ihn zu gewinnen oder um seine Folgen zu bewältigen", betonte Deitelhoff. Generell fordern die Friedensforscher eine "Corona-Friedensdividende". Diese sollte ihrer Meinung nach aus dem Rüstungsbereich kommen. "Es gilt, Militärausgaben zu reduzieren, um die sozial-ökologische Erneuerung der Weltwirtschaft anzugehen und soziale Ungleichheiten abzubauen", empfehlen die Forscher.
Die Pandemie habe zwar nicht zu einer unmittelbaren Zunahme an Gewaltkonflikten weltweit geführt, heißt es in der Analyse weiter. Dennoch wirke sich die Corona-Krise verschärfend auf die Ernährungssituation in vielen Krisenregionen wie etwa im Jemen, am Horn von Afrika oder im westlichen Sahel aus. Daher müsse auch die humanitäre Hilfe gestärkt werden.
Mehr als 121 gewaltsame Konflikte weltweit
Zudem bleibe die Zahl gewaltsamer Konflikte mit 121 im Jahr 2019 im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt mit durchschnittlich 69 und maximal 85 Konflikten weiter hoch, warnt das «Friedensgutachten».
Fallstudien zeigten, wie Covid-19 bestehende Konfliktlagen verschärfe oder Friedensbemühungen ausbremse: So seien beispielsweise in Libyen Friedensverhandlungen wegen der Pandemie unterbrochen worden.
Europa sollte nach Meinung der Friedensforscher dazu beitragen, Impfstoffe gerecht zu verteilen, die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Pandemie abzumildern und die Armuts- und Ernährungspolitik neu zu justieren. Konkret schlagen die Forscher zum Beispiel vor, Finanztransfers zu leisten, Schulden zu erlassen oder die Verantwortung von Unternehmen für ihre Lieferketten rechtlich zu verankern. Forscherin Deitelhoff sprach vom nötigen Aufbau staatlicher Strukturen im globalen Süden, um grundlegende Bereiche zu fördern wie eine effektive medizinische Versorgung, sauberes Wasser, sichere Energie oder Bildung.
Europa als Mittler zwischen China und USA?
Einen Fokus legen die Forscher indes in diesem Jahr auch auf China. Friedens- und sicherheitspolitisch gehe es darum, dass Europa seine zivilen Stärken nutze und seine Kooperationsspielräume gerade auch gegenüber China vergrößere. So könnte es zur Annäherung zwischen China und den USA beitragen. In Afrika hätten Europa und China geteilte Sicherheits- und Stabilitätsinteressen. Zugleich müsse Brüssel aber der Aufweichung von Menschenrechtsstandards entgegenwirken.
Die "Friedensgutachter" warnen zudem vor einer weltweiten Erosion der Demokratie. "Nötig ist sowohl der Erhalt von Demokratie innerhalb der EU und im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit demokratischer Staaten als auch die Stärkung demokratischer Institutionen in fragilen Staaten im Globalen Süden", heben die Forscher hervor. Die Pandemie wirke wie ein Brandbeschleuniger für den Abbau demokratischer Errungenschaften, warnte Deitelhoff.