Historikerin Claudia Weber über den Hitler-Stalin-Pakt

"Da liegt bis heute noch sehr viel im Verborgenen"

In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag. Damit hatte Adolf Hitler freie Hand für den Überfall auf Polen. Auch heute noch offenbaren sich weiße Flecken in der Geschichtsschreibung

Plakate von Hitler und Stalin in Prag / © vicspacewalker (shutterstock)
Plakate von Hitler und Stalin in Prag / © vicspacewalker ( shutterstock )

KNA: Frau Weber, wenn man heute über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag liest, ist gerne von einer "Weltsensation" die Rede. Fiel diese Vereinbarung für die Zeitgenossen tatsächlich vom Himmel?

Claudia Weber (Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt): Im Gegenteil. Der Vertrag war das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung und von ganz verschiedenen Faktoren.

KNA: Woher kommt dann diese Wahrnehmung eines besonders spektakulären diplomatischen Coups?

Weber: Diese Sicht hat vor allen Dingen etwas mit den Reaktionen der europäischen Linken zu tun. Gerade für die deutschen Kommunisten, die vor den Nationalsozialisten nach Moskau geflohen waren und jahrelang gegen Hitler gearbeitet hatten, war dieses Bündnis kaum zu fassen.

Aber wenn man sich die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten anschaut, dann kam der Pakt überhaupt nicht überraschend.

KNA: Können Sie das noch etwas näher erläutern?

Weber: Die deutsch-sowjetische Fluggesellschaft Deruluft, die 1921 maßgeblich auf Initiative der Lufthansa zustande gekommen war, ist ein Beispiel für die engen wirtschaftlichen Kontakte beider Länder, das inzwischen kaum mehr bekannt ist.

KNA: Der Flugverkehr wurde 1937 vorübergehend eingestellt ...,

Weber: ... hatte aber nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten das größte Passagieraufkommen auf der Strecke Berlin-Moskau.

KNA: Im August 1939 flog der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop nach Moskau, um dort mit seinem sowjetischen Kollegen Wjatscheslaw Molotow den Nichtangriffsvertrag zu unterzeichnen.

Weber: Schon bevor Ribbentrop sich auf den Weg nach Moskau machte, war den meisten Diplomaten und Politikern klar, dass der Vertrag kommen würde.

KNA: Wie fielen die Reaktionen in der Öffentlichkeit aus?

Weber: Sehr ambivalent - sowohl auf sowjetischer wie auch auf deutscher Seite. Natürlich gab es aufgrund der seit 1933 gewachsenen ideologischen Gegnerschaft zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus Vorbehalte. Begrüßt wurde die Einigung im Hinblick auf Polen. "Jetzt können wir das Land wieder teilen", hieß es bei Deutschen wie Russen. Molotow selbst bezeichnete Polen ja als "Bastard des Versailler Vertrages".

KNA: Die letzten Verhandlungen fanden in Moskau statt. Der Vertrag trägt die Unterschrift von Ribbentrop und Molotow. Welche Rolle spielten deren Chefs, also Hitler und Stalin?

Weber: Das Ganze fand in Moskau statt, weil Stalin generell ungern reiste und sich im Ausland stets unsicher fühlte. Er war nicht nur bei den Verhandlungen im Kreml anwesend, er kontrollierte den ganzen Prozess und nahm persönlich Änderungen vor.

KNA: An welchen Stellen?

Weber: Ribbentrop wollte etwa vor den Vertrag eine schwülstige Freundschaftspräambel setzen. Da hat Stalin abgewunken mit der Begründung, dass sich solche Formulierungen nach all den Jahren der ideologischen Gegnerschaft kaum in der Öffentlichkeit vermitteln ließen.

KNA: Im Gegensatz zu Stalin war Hitler nicht vor Ort.

Weber: Er trat zurückhaltender auf. Aber natürlich musste Ribbentrop Rücksprache mit ihm halten. Für Hitler war vor allen Dingen wichtig, dass dieser Pakt ihm den Einmarsch in Polen ermöglichte. Die Einzelheiten überließ er dann doch eher Ribbentrop.

KNA: Wie ging es anschließend weiter?

Weber: Der Ribbentrop-Molotow-Pakt, wie er in Osteuropa gemeinhin genannt wird, bildete den Auftakt zu einer Reihe von Vereinbarungen - und zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Da liegt bis heute noch sehr viel im Verborgenen - zumindest was die westliche Geschichtsschreibung anbelangt.

KNA: Warum ist das so?

Weber: In den 1990er Jahren haben einige osteuropäische Historiker wie Lew Besymenski hervorragende Studien zu dem Thema vorgelegt. Sie profitierten davon, im Rahmen der sogenannten Archivrevolution russische Aktenbestände einsehen zu können, die heute wieder unter Verschluss sind. Aber damit allein ist das Phänomen der weißen Flecken in der westlichen Geschichtsschreibung nicht zu klären.

KNA: Sondern?

Weber: Offenbar gibt es im Westen ein Unbehagen, sich mit diesem Komplex auseinanderzusetzen. Dabei kann man diese Geschichte ganz gut schreiben - dafür reicht eine Fahrt nach Berlin. Im Bundesarchiv und im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes lagern die deutschen Akten - und sind seit Jahren frei zugänglich.

KNA: Was geht daraus hervor?

Weber: Wie vielfältig die Zusammenarbeit von sowjetischen und deutschen Stellen zwischen 1939 und 1941 war. Das Spektrum reichte von Wirtschaftsbeziehungen über die Zusammenarbeit von sowjetischem Geheimdienst NKWD und SS beim Umgang mit polnischen Juden bis hin zu Militärkommissionen, die Aktionen gegen den polnischen Widerstand koordinierten. Erschreckend fand ich vor allem, wie SS-Täter, die nach 1941 auf dem sowjetischem Territorium Massenverbrechen begingen, vorher einvernehmlich mit dem NKWD zusammenarbeiteten.

KNA: An wen denken Sie in diesem Zusammenhang?

Weber: Beispielsweise an den SS-Führer und Gouverneur des Distrikt Krakau, Otto Wächter. Wächter war einer der Ansprechpartner für die NKWD-Offiziere - bevor er dann nach dem Überfall auf die Sowjetunion in Galizien den Terror der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD mit koordinierte.

KNA: In Deutschland gibt es Bestrebungen, ein Denkmal für die Opfer der Vernichtungskriege im Osten Europas zu errichten. Eine Initiative wirbt für ein Polen-Denkmal. Andere ziehen ein gemeinsames Denkmal für polnische, russische und Opfer weiterer Länder vor. Welcher Variante stehen Sie näher?

Weber: Ich bin Mitunterzeichnerin der Initiative für das Polen-Denkmal, habe allerdings, was die Aufarbeitung der Vergangenheit grundsätzlich anbelangt, Zweifel, ob Denkmäler dafür immer die richtige Lösung sind.

KNA: Warum?

Weber: Sie müssen das Geschehen zwangsläufig komprimieren. Dabei gehen Grautöne und Konflikte unter. Wie wollen Sie mit einem Denkmal die Tatsache abbilden, dass nach dem Überfall auf Polen die in den neuen Grenzgebieten umherirrenden jüdischen Flüchtlinge von Deutschen und Sowjets beschossen wurden?

KNA: Was also tun?

Weber: Historiker und Medien müssen mehr von diesen Geschichten erzählen, Widersprüche veranschaulichen, Mythen und einfache Deutungen hinterfragen.

KNA: Mit der AfD hat in Deutschland ein Akteur die politische Bühne betreten, der Geschichte umdeuten will, das Dritte Reich zu einem "Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" erklärt. Bereitet Ihnen so etwas Sorge?

Weber: Ich finde diesen Vergleich unerträglich. Tatsächlich währte das NS-Regime nur zwölf Jahre. Aber diese zwölf Jahre hatten immense Folgen. Das ist entscheidend, nicht die Dauer.

Das Interview führte Joachim Heinz. 


Claudia Weber / © Heide Fest (KNA)
Claudia Weber / © Heide Fest ( KNA )
Quelle:
KNA