Misereor-Geschäftsführer fordert neue Perspektiven für die Fastenzeit

"Da muss was anders werden"

Die Fastenzeit ist ein Anlass, um unsere Beziehungen mit unseren Mitmenschen und der Umwelt wieder mehr in den Blick zu nehmen, sagt Pirmin Spiegel. Auch die diesjährige Fastenaktion von Misereor nehme das in den Blick.

Pirmin Spiegel / © Julia Steinbrecht (KNA)
Pirmin Spiegel / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die Fastenzeit ist in diesem Jahr anders. Die meisten müssen ja schon seit fast einem Jahr wegen Corona auf so vieles verzichten. Müssen wir jetzt noch mehr weglassen, noch mehr verzichten?

Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer von Misereor): Wir bringen mit der Fastenzeit oft den Verzicht auf Fleisch, auf Alkohol, auf Süßes, oder auch Dinge wie Autofasten in Verbindung. Wir meinen: Konkret geht es darum, in der Fastenzeit Dinge neu wahrzunehmen. Unsere Beziehungen zueinander, unser Sorgetragen, unsere Achtsamkeit mit uns selbst, mit dem und den anderen wie der Schöpfung. Es geht darum, den Kopf, den Bauch, den Geist, die Seele frei zu kriegen und das in den Blick zu nehmen. Da kann dann der Verzicht nicht als Verzicht gesehen werden, sondern als eine größere Solidarität mit anderen, die in dramatischen Leidenssituationen sind.

DOMRADIO.DE: Ihr Leitwort dieses Jahr ist "Es geht. Anders." Haben Sie im Beispiel, was denn alles anders gehen könnte?

Spiegel: Wir hören immer wieder, dass die Corona-Pandemie wie ein Brennglas die Ungleichheiten und die Schieflage in unserer Welt zeigt. Ich will Ihnen drei konkrete Beispiele zu solchen Schieflagen nennen: einmal im sozialen Bereich. Da erhielt ich letzte Woche einen Brief von Professor Daniel Pilario. Er ist Dekan einer Hochschule auf den Philippinen, und er schrieb mir: "Da sind die müden Füße von hungrigen Männern und Frauen, die ziellos durch die Straßen laufen, während sie auf dem Höhepunkt der Abriegelung durch die Pandemie nach Nahrung suchen. Sie sind so lange unterwegs gewesen, sind so krank und schwach geworden, dass es ihnen unmöglich war, weiterzugehen." Da muss was anders werden.

Dann zweitens der ökologische Bereich: Wir hören, dass die Biodiversität im Regenwald Afrikas immer mehr abnimmt, dass die Tier- und Pflanzenarten immer mehr an den Rand ihrer Existenz gedrängt werden - aufgrund eines kurzfristigen Konsumierens und Gewinnens. auch hier im ökologischen Bereich muss etwas anders werden.

Drittens das Thema Corona: Heute Morgen kam eine Nachricht aus Sri Lanka. Wir haben über Impfstoffe, über Impfgerechtigkeit geredet. Die Antwort, die ich erhielt: Padre, die Impfstoffe sind bei uns ganz weit weg. Es wird nicht mal angedacht, dass die überhaupt zu uns kommen sollen." Da sehen wir Schieflagen, Ungleichheiten. Wir hören den Schrei der Erde, den Schrei der Armen und Vulnerablen. Da sagen wir, es geht auch anders. Das wollen wir über unser Projekt zeigen.

DOMRADIO.DE: In welche Weltregionen schauen Sie während der Fastenaktion noch besonders?

Spiegel: Wir haben diesem Jahr Bolivien ausgewählt. Da geht es um die Verschiedenartigkeit des ganzen Landes. Da gibt es die Anden. Es gibt den Altiplano. Es gibt das Tiefland zum Amazonas hin und das mit 11 Millionen Einwohnern. Professor Schellnhuber, der ehemalige Leiter des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Er hat viel zu den Regenwäldern gesagt, um die es hauptsächlich geht in der diesjährigen Fastenaktion: Regenwälder zu schützen bedeutet, den Planeten zu schützen. Stirbt Amazonien, wird der Planet sterben. Eine indigene Frau, Maria, sagte mir in der zur Konferenz am vergangenen Samstag: "Der Regenwald ist unser Zuhause. Wir werden doch unser Zuhause nicht zerstören."

Mich hat das unheimlich betroffen gemacht, weil wir spüren: Da geht es ganz konkret um Lebensstile, um Lebensweisen und um Zusammenhänge. Die Sojaproduktion, die Viehproduktion wird in Amazonien weiter vordringen und diesen Regenwald zerstören. Dieses Fleisch wird zum Teil zu uns nach Europa transportiert. Diese Zusammenhänge wollen wir aufzeigen unter dem Thema: "Es geht. Anders." Dass es anders geht. Dass alle Menschen ein würdevolles Leben und ein Leben in Fülle haben können.

DOMRADIO.DE: Sie von Misereor sind jetzt schon im zweiten Jahr von den Coronabeschränkungen betroffen. Normalerweise machen Sie ja mit ganz vielen Aktionen auf Ihre Spendensammlung aufmerksam. Wie besorgt sind Sie, dass Sie jetzt nicht genug Geld zusammenkriegen?

Spiegel: Im Jahr 2020 ist die Kollekte zurückgegangen, aber mit den Spendeneinnahmen haben wir mehr als ausgleichen können. Wir haben insgesamt mehr Spenden eingenommen als 2019. Wir haben in dieser Woche von der Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) gehört, dass es etwas weniger an Spendern gab, dass aber die Spendenhöhe um fünf Prozent zugenommen hat auf insgesamt 5,4 Milliarden Euro in der Bundesrepublik Deutschland. Das lesen wir bei Misereor als einen Ausdruck der großen Solidarität, als ein Wahrnehmen, dass Leid und Vulnerabilität und Verletzlichkeit nicht nur bei uns spürbar sind, sondern in noch dramatischerem Maße in anderen Teilen der Welt. In einer solchen Situation zu teilen, ist für mich ein ganz großes Zeugnis der Nächstenliebe und der Evangeliumsgemäßheit.

DOMRADIO.DE: Was haben Sie sich als Alternativen zu den Aktionen ausgedacht, die Sie sonst in der Fastenzeit immer veranstalten?

Spiegel: Wir haben versucht, einen Filter anzulegen an all die Aktionen, die wir im letzten Jahr von März an durchgeführt haben, auch was wir von anderen Partnerorganisationen, von den anderen Werken unserer Kirche gelernt haben. Da wollen wir das Positive übernehmen. Wir haben sehr viele Zuschaltungen aus Bolivien in diesen Tagen. Wir stellen sehr viele Angebote ins Netz und erfreuen uns einer großen Teilnahme. Am kommenden Sonntag wird der Gottesdienst live in der ARD übertragen.

Alle anderen Veranstaltungen in Hildesheim werden virtuell sein und wir haben uns etwas Besonderes ausgedacht: Wir wollen während der Fastenzeit, aber auch über die Fastenzeit hinaus jeweils Gesprächspartner aus allen Südkontinenten einladen, Afrika, Lateinamerika, Ozeanien und sie werden über Gesundheit, über Klima, über Migration, über Menschenrechte, über Hoffnungspotenziale, über Glaubenszeugnis erzählen. Wir schauen dann, wie wir das kommunizieren können über soziale Medien und über Homepages. Da sind wir noch dran. Aber zu diesen Gesprächen laden wir ein, um die Weltkirche und auch die globale Dimension der einen Erde und der einen Welt deutlich greifbar und spürbar zu machen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR