Darsteller der Oberammergauer Passionsspiele im Heiligen Land

Wenn die Bibel greifbar wird

​Gut acht Monate sind es noch, bis am 16. Mai 2020 die Oberammergauer Passionsspiele beginnen. Doch die Darsteller bereiten sich schon lange auf die 103 Spieltage vor - unter anderem an Originalschauplätzen des Leidens Jesu.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Spielleiter Christian Stückl  / © Angelika Warmuth (dpa)
Spielleiter Christian Stückl / © Angelika Warmuth ( dpa )

"Ich wünsche mir eine Szene, in der Jesus einen Witz erzählt." Spielleiter Christian Stückl lacht, die beiden Jesus-Darsteller grinsen. Im Schatten einer Mauer auf dem Jerusalemer Zionsberg sitzen der doppelte Jesus und 38 weitere Hauptdarsteller der Oberammergauer Passionsspiele und diskutieren das letzte Abendmahl. Während Stückl spricht, entsteht ein ungewohntes Bild der bekannten Szene. Da ist Lebensfreude und die gelöste Stimmung des bevorstehenden Pessachfests, da sind die Apostel, ein "junger, guter Haufen, der was bewegen wollte", da sind die Worte Jesu, die die Stimmung drücken. Wo, wenn nicht im Heiligen Land, sagt Stückl, wird biblische Geschichte lebendig.

"Wir saßen damals im Wirtshaus", erinnert sich der Spielleiter an die Zeit, als er als Jugendlicher mit anderen Darstellern der Passionsspiele "Nachhilfeunterricht" von Theologen erhielt. "Ich fand das todlangweilig damals."

"Jesus runter auf den Boden holen"

Stückl reiste ins Heilige Land, an die Originalschauplätze der biblischen Erzählungen und gewann die Erkenntnis: "Das müsste man mit allen machen!" Eine Vision, die der Theaterintendant mit der Übernahme der Spielleitung 1987 in die Tat umsetzte. Zum vierten Mal reist er nun mit seiner Truppe auf den Spuren Jesu durch Israel, wenn auch nicht wirklich mit allen - rund 2.500 Oberammergauer sind jeweils aktiver Teil der Passionsspiele.

Stückls Hauptdarsteller sitzen nicht im oberbayerischen Wirtshaus. Am Ufer des Sees Genezareth, auf dem Tempelberg, unter Olivenbäumen im Garten Gethsemane setzen sie sich intensiv mit den Personen auseinander, die sie in wenigen Monaten glaubwürdig auf die Bühne bringen sollen. Dreimal bittet Jesus seinen engsten Kreis im Garten am Ölberg, wach zu bleiben, dreimal schlafen sie ein: "Eine völlig normale Reaktion", findet Christian Stückl. Nach anstrengenden Tagen seit dem Einzug in Jerusalem "können sie einfach nicht mehr". "Jesus runter auf den Boden holen und verstehbar machen", lautet Stückls Anspruch. Seine frische Sicht jenseits der Überlieferung macht aus den biblischen Akteuren normale Menschen - und damit zugänglich.

"Begeisterung und Fragezeichen"

"Der Besuch im Heiligen Land macht etwas mit einem", sagt Frederik Mayet, der 2020 zum zweiten Mal als Jesus auf der Bühne stehen wird. "Wir erzählen im lieblichen Oberbayern eine Geschichte, die in Nahost unter ganz anderen klimatischen und politischen Bedingungen geschehen ist." Die intensive Auseinandersetzung mit Jesus, "wie sie sonst vielleicht nur ein Theologiestudium bringen würde", bringe zugleich "mehr Begeisterung und Fragezeichen" mit sich.

Die Jungen mitnehmen

Alle zehn Jahre wird die Passion gespielt. Seit Stückl die Regie übernommen hat, bei jeder Ausgabe in neuem Erscheinungsbild. Der heute 57-Jährige, der mit 24 zum jüngsten Spielleiter wurde, will die Jungen mitnehmen, auf und vor der Bühne. "Traditionsverhaftet, aber in kontinuierlicher Entwicklung", beschreibt es Frederik Mayet.

Das Neue liegt nicht nur in Bühnenbild und Kostüm: Im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und in der katholischen Kirche nach der Konzilserklärung "Nostra Aetate" (1965) insbesondere zum Judentum stellt Stückl sich aktiv den Antisemitismusvorwürfen, die sich durch die Geschichte der Passionsspiele ziehen.

Neben einer grundlegenden Textreform für die Spiele im Jahr 2000 spielen der jüdisch-christliche und der interreligiöse Dialog seit 30 Jahren eine Rolle. Ein Besuch in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem, Treffen mit Holocaustüberlebenden und die Diskussion über Jesus aus jüdischer Perspektive gehören so selbstverständlich zum Reiseprogramm Stückls wie die Grabeskirche.

Muslim erstmals zweiter Spielleiter

Auch sonst korrespondieren die Passionsspiele a la Stückl mit der veränderten Realität: Mit Abdullah Karaca ist 2020 erstmals ein Muslim zweiter Spielleiter. Wie die meisten Oberammergauer ist auch er in die Passionsspiele hineingeboren worden. Schon als Zehnjähriger spielte Karaca im Volk mit, doch mit einer Rolle im Leitungsteam "ist ein Traum in Erfüllung gegangen".

Für den Theaterregisseur sind die Passionsspiele eine "spannende Aufforderung, anders mit dem Thema umzugehen". Wie die Begegnungen im Heiligen Land laden sie ein, zu hinterfragen, zu sehen, was nicht gut ist, und als Aufgabe mitzunehmen, daran zu arbeiten, besser zu werden.


Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters / © Sven Hoppe (dpa)
Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters / © Sven Hoppe ( dpa )
Quelle:
KNA
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