Das Evangelische Stift Tübingen feiert seine 750-jährige Geschichte

Vom Kloster zum kirchlichen Studienhaus

"Im Jahre des Herrn 1262" wurde in Tübingen ein Augustinerkloster gegründet - das heutige Evangelische Stift. Das bundesweit einzigartige Studienhaus hat namhafte Dichter, Denker und Wissenschaftler hervorgebracht. Zu den Bewohnern gehörten etwa der Dichter Hölderlin und der Astronom Kepler.

Autor/in:
Judith Kubitscheck und Hans-Dieter Frauer
 (DR)

"Pflanzstätte schwäbischen Geistes"

Es zählt sicherlich zu einem der bedeutendsten Gebäude Württembergs: Bekanntheiten wie Friedrich Hölderlin (1770-1843), Eduard Mörike (1804-1875) und auch der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler (1571-1630) verbrachten Studienjahre im Tübinger Stift. Vor kurzem besuchte Bundespräsident Joachim Gauck das traditionsreiche Haus. Das Stift, ein Wohn- und Studienhaus für evangelische Württemberger, hat die europäische Geistesgeschichte geprägt und als "Pflanzstätte schwäbischen Geistes" namhafte Denker, Dichter und Wissenschaftler hervorgebracht.



Im "Jahre des Herrn 1262" wurde es als Augustiner-Eremitenkloster innerhalb der Stadtmauern am Neckarhang gegründet, wie es im württembergischen Urkundenbuch steht: "Es möge das gegenwärtige wie das künftige Zeitalter wissen, dass wir, die Brüder des Ordens des seligen Augustin direkt unterhalb der Mauern unserer Stadt angesiedelt haben, ... dass sie dort entsprechend dem Brauch ihres Ordens eine Betstätte und Klostergebäude bauen."



Tübinger Universität sorgte für eine geistige Blüte des Klosters

Laut dem Historiker Wilfried Setzler sorgte die Gründung der Tübinger Universität 1477 für eine geistliche und geistige Blüte des Klosters. Immer mehr Mönche aus anderen Augustinerkonventen zogen zum Studium und zur Lehre nach Tübingen. Doch ein Neubau der Klosteranlage führte das Augustinerkloster in eine finanzielle Krise, von der es sich bis zur Reformation nicht mehr erholen sollte.



Der württembergischen Herzog Ulrich, der 1534 in seinem Land die Reformation eingeführt hatte, tätigte eine Stiftung: Er gründete 1536 ein Studien- und Wohnhaus, das "Stift". Es wurde 1547 in das ehemalige Augustinerkloster verlegt. Ulrich brauchte eine einheitlich und gut ausgebildete Pfarrer- und Beamtenschaft. Das Stift hat dann auch maßgeblich dazu beigetragen, dass das kleine Württemberg rasch in eine führende Stellung unter den protestantischen Reichsständen hineinwuchs.



Heute bevölkern die Räume des ehemaligen Augustiner-Eremitenklosters bis zu 185 Studenten, die zumeist das evangelische Pfarramt oder das Lehramt an Gymnasien anstreben. Die Stipendiaten wohnen für neun Semester im Stift, sie werden verpflegt und von derzeit 6,5 "Repetenten" - so heißen die wissenschaftlichen Begleitkräfte - begleitet, betreut und auch gefordert: Neben ihren universitären Verpflichtungen haben sie regelmäßig zusätzliche Arbeiten vorzulegen. So wird das Wissen aufgearbeitet und vertieft.



Festgottesdienst mit Landesbischof July

Bei einem Festgottesdienst in der Tübinger Stiftskirche mit dem Bischof der württembergischen Landeskirche, Frank Otfried July, und einem Festvortrag des Tübinger Kunsthistorikers Gernot Närger sollte am Mittwoch die 750-jährige Geschichte des Hauses gefeiert werden. Für den Ephorus des Evangelischen Stifts, Volker Henning Drecoll, zeigt das Jubiläum, dass die Kirchen der Reformation nicht aus dem Nichts kommen, sondern sich selbst als Fortführung und "Reformation" der bestehenden Kirche begreife. "Die Umwidmung eines Klostergutes zu Bildungszwecken entsprach einem Grundimpuls der Reformation", sagt Drecoll, der Professor für Kirchengeschichte ist. Aus der 750-jährigen Geschichte des Hauses könnten Impulse für die heutige Arbeit des Stiftes gewonnen werden.



Beispielsweise müsse immer wieder das Zusammenleben verschiedener Frömmigkeitsformen neu eingeübt werden. Die Herausforderung bestehe darin, dass die einzelnen Frömmigkeitsformen nicht nur friedlich nebeneinander leben, sondern sich tatsächlich kennenlernen und austauschen. Auch die Verbindung von Kirche und Wissenschaft sei eine spannungsreiche, aber fruchtbare Geschichte. Einige Eigenheiten des Augustinerklosters blieben noch nach der Reformation im Stift erhalten: Ebenso wie die Mönche trugen die Stiftbewohner eine einheitliche Kleidung. Außerdem gab es noch viele Jahre lang feste Torschließzeiten.



Hinweis:

Anlässlich des Jubiläums wird noch in diesem Jahr das Buch "Stiftköpfe" erscheinen, in dem das Leben von 50 bekannten Personen beschrieben wird, die im Tübinger Stift gewohnt haben. Vom 8. bis 11. Oktober 2012 wird es eine wissenschaftliche Fachtagung im Tübinger Stift geben, die wichtige Stationen der Geschichte des Hauses von der Zeit der Augustinermönche bis in die Gegenwart behandeln wird.