Experte über den Ausfall von Brauchtum in Corona-Zeiten

"Das Ganze nicht als Verlust empfinden"

Martinszüge fallen wegen der Corona-Pandemie aus, Schützenfeste sind abgesagt und Karneval wird wohl anders gefeiert werden. Der Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti entdeckt daran aber auch eine positive Seite.

Sankt Martin / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
Sankt Martin / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )

DOMRADIO.DE: Welche gesamtgesellschaftliche Rolle spielen große Feste wie Schützenfeste, Sankt Martin, das Oktoberfest oder Karneval auch über den eigentlichen Festtag hinaus?

Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti (Brauchtumsforscher): Die Feste sind sozialer Kitt für unsere Gesellschaft. In ihnen konzentriert sich das, was notwendig ist, nämlich das Empfinden von Gemeinschaft, das Miteinander, das Zusammentun, sich gegenseitig verantwortlich fühlen.

All das konzentriert sich in diesen Festen. “Brauch” heißt nicht ohne Grund “Brauch”. Es ist das, was bräuchlich ist, was notwendig ist. Etwas, das erwartet wird. Martin muss man nicht anordnen. Bei Martin weiß jeder: Da passiert dieses oder jenes. Es gehören bestimmte Riten dazu, dass man sich zu Hause fühlt und dass man weiß, da gehöre ich hin, das gehört zu mir.

Und genau das fällt jetzt weg, weil dieses Gemeinschaftserlebnis eben nur unter größten Gefahren zu veranstalten wäre. Deshalb muss alles, was bisher öffentlich und laut war, privat und leise werden. Es muss also auf kleinere Einheiten heruntergebrochen warden.

DOMRADIO.DE: Was hat es für Konsequenzen, wenn solche Feste ausfallen oder nur auf Sparflamme stattfinden?

Becker-Huberti: Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass man das Ganze nur als Verlust empfindet, dass uns etwas genommen wird, was uns zusteht und dem wir dann hinterher hängen. Das ist die eine Möglichkeit.

Die günstigere ist eine andere, nämlich zu sehen, was das Ganze bringt und zu merken, dass wir eine Sehnsucht nach bestimmten Dingen haben, die wir brauchen, die nötig sind. Der Brauch ist das, was wir brauchen.

Das andere ist der Umstand, dass wir wieder lernen, die Dinge so zu leben, wie sie kommen. Wir leben im Augenblick nach dem Prinzip der Wirtschaft: alles, jetzt, hier und sofort. Und genau das funktioniert nicht.

Wir lernen jetzt wieder, dass wir warten müssen. Zum Beispiel an unserer Art, wie wir Weihnachten feiern. Da fangen wir im August schon mit den ersten Plätzchen im Supermarktregal an und ziehen Weihnachten so weit nach vorne, dass zu Weihnachten selbst kaum noch etwas von Weihnachten übrig bleibt. Wir lernen jetzt wieder, dass die Dinge ihre Zeit und ihren Ort haben. Das ist vielleicht ein ganz großer Gewinn, den wir gegenüber dem Verlust, der auch stattfindet, haben. Der Gewinn, dass wir merken: Wir können warten.

DOMRADIO.DE: Es würde wahrscheinlich einen Karenvalsjecken wenig trösten, wenn er auf die nächste Session wartet. Man will ja am 11.11. eigentlich feiern, spätestens im Februar. Hat das nicht auch gesellschaftliche Folgen für das Rheinland und seine Bewohner?

Becker-Huberti: Ja, man kommt bei dem Karneval wieder an die Ursprünge. Das heißt, man kann wieder im Kleinen feiern, in der Familie. Es ist ja nicht verboten, am 11.11. zu feiern, nur nicht in diesen Massenveranstaltungen, wie wir sie bisher kennen. Aber ich kann am 11.11. zu Hause durchaus mit meiner Familie feiern, eventuell sogar noch mit den Nachbarn. Aber darüber hinaus wäre ich sehr vorsichtig. Das heißt, wir brechen runter. Wir brechen wieder auf normale Verhältnisse und müssen wieder lernen, die Dinge bei den Ursprüngen anzufassen.

DOMRADIO.DE: Und wenn die Corona-Pandemie eines Tages vorbei ist und wenn wieder alles so ist wie vorher, kann man dann die Kultur einfach wieder so “einschalten”?  

Becker-Huberti: Ich glaube, das wird ganz schnell passieren, weil man sich danach sehnt, das auf diese Art und Weise wieder zu machen. Für mich ist ein Erlebnis, das sich aus Briefen kenne, immer überdeutlich.

In der Zeit des Ersten Weltkrieges haben Düsseldorfer in den Schützengräben an der Front Martinszüge veranstaltet, weil ihnen das einfach fehlte. Sie brauchten das. Und sie machten es an dieser Stelle, wo andere sagten: “Die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank.” Das mag ja sein, aber es ist etwas, was ihnen notwendig war und was sie dann in dieser absurden Situation nachvollzogen haben.

Genauso wird es bei uns sein. Die Feste werden wieder entstehen, weil sie gebraucht werden. Brauch ist das, was nötig ist.

Das Interview führte Tobias Fricke. 


Manfred Becker-Huberti / © Harald Oppitz (KNA)
Manfred Becker-Huberti / © Harald Oppitz ( KNA )

Sankt Martinszug / © Harald Oppitz (KNA)
Sankt Martinszug / © Harald Oppitz ( KNA )

Lebkuchenherzen auf dem Oktoberfest / © katjen (shutterstock)
Lebkuchenherzen auf dem Oktoberfest / © katjen ( shutterstock )

Tanzmariechen nehmen an dem Rosenmontagszüge teil / © Rolf Vennenbernd (dpa)
Tanzmariechen nehmen an dem Rosenmontagszüge teil / © Rolf Vennenbernd ( dpa )
Quelle:
DR