Studieren im Lockdown

Das gestohlene Jahr

Bei manchen rutscht die Motivation in den Keller: einsame Pflichtlektüre in der Studentenbude, stundenlanges Sitzen am PC, fehlende Kontakte, Vorlesungen im Netz. Besonders die "Erstis“ trifft es hart. Viele kennen ihren "Prof“ nicht einmal persönlich.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Hörsaal / © Paul.J.West (shutterstock)

Maybrit M. atmet erleichtert auf. Auch die vorerst letzte Klausur ist geschafft. Dabei war weniger der Stoff das Problem – den hatte die Volkswirtschaftsstudentin ohnehin drauf – als vielmehr die Technik. Doch allen Befürchtungen zum Trotz hat im entscheidenden Moment das Internet gehalten und wider Erwarten auch das Hochladen der Aufgaben geklappt. Denn unbegründet ist die Sorge, wegen digitaler Schwierigkeiten bei einer wichtigen Prüfung passen zu müssen und damit das Semesterziel zu verfehlen, nicht. Immerhin verfügt die 23-Jährige im Homestudying nicht immer über stabiles WLAN. Das erhöht den persönlichen Stresspegel in solchen Situationen noch einmal deutlich. Als ob die Anspannung in Corona-Zeiten noch nicht groß genug wäre.

Aber nun kann sich die Studentin der Uni Köln entspannt zurücklehnen: Auch das fünfte Semester ist erfolgreich abgehakt. Und das, obwohl sie sich nach gut einem Jahr Online-Studium zunehmend ausgelaugt und erschöpft fühlt. "Meine Motivation, auch zukünftig acht bis neun Stunden täglich am Bildschirm Vorlesungen oder Lernveranstaltungen zu folgen, tendiert gegen Null. Aber ich beiße mich durch und will das schaffen", lautet ihre Durchhalteparole. Sich selber Mut zu machen und gegen den zunehmenden Corona-Blues anzukämpfen gehört für junge Leute schließlich längst dazu. Da ist die gebürtige Gladbacherin mit dem Berufswunsch Wirtschaftsjournalismus keine Ausnahme.

Lernen im Homeoffice ein komplett anderes Studium

"Normalerweise sitze ich mit 200 anderen in einem Hörsaal, treffe meine Kommilitonen in einer Lerngruppe und gehe mit ihnen anschließend in die Mensa", erzählt Maybrit, die parallel zu ihrem Unistudium eine Ausbildung an einer privaten Journalistenschule absolviert. Doch normales Studentenleben finde eben schon lange nicht mehr statt, sagt sie. Auch lang geplante Studienreisen mussten inzwischen gecancelt werden. Stattdessen sei seit Monaten Wohnen zuhause angesagt. "Schließlich kann man auch dort am Laptop sitzen und spart obendrein das Geld für ein Zimmer. Der Nachteil: Natürlich sieht und trifft man so niemanden – außer im Netz, wo wir mit fünf anderen unser Tutorium abhalten." Was aber natürlich nicht dasselbe sei.

Mit Bildkacheln kommunizieren statt Begegnungen in Echtzeit? "Alles fällt gerade flach. Stattdessen ausschließlich lernen im virtuellen Raum", schildert die junge Frau genervt. "Das geht mit der Zeit auf die Psyche. Auch wenn jede Vorlesung zu einer Art Privatstunde mit dem Prof wird – das Wichtigste fehlt doch: der direkte Austausch und auch ein Ausgleich für stundenlanges Zuhören." Dieser Distanzunterricht sei auf Dauer schon extrem belastend und erhöhe gleichzeitig den Druck. Zudem bedeute Lernen im Homeoffice ein komplett anderes Studium. "Ganz abgesehen von den Kopfschmerzen nach gefühlt endlosem Sitzen am PC – und der fehlenden Perspektive."

Es gebe Tage, da komme sie gar nicht vor die Tür, sei antriebslos und habe nicht einmal Lust zu telefonieren. "Kein Wunder, dass man in den eigenen vier Wänden auch ein wenig verlottert – ohne jeden Anreiz, jemanden absehbar live zu treffen. Nicht auszudenken, dass das auf Dauer auch erst einmal nicht mehr besser wird", sagt Maybrit. Trotzdem habe sie wenigstens den Vergleich. "Im Gegensatz zu anderen weiß ich, wie es vor dem Lockdown war."

Vorlesungen als pandemische Hotspots eingestuft

Wer in der Pandemie studiert, der wird gerade um vieles betrogen, was sonst zu dieser Lebensphase gehört, in der vor allem Selbstfindung angesagt ist und das Ausreizen der vielen Optionen, die Erwachsenwerden auf dem Campus nun mal bietet: zum Beispiel sich an Debatten beteiligen oder Initiativen gründen. Die Nacht durchdiskutieren oder das Auslandssemester planen. Mit Freunden ausgehen oder sich politisch engagieren. Doch dafür braucht es Impulse. Neue Leute aber trifft man gerade weder im Audimax noch auf Partys. Ein Spaziergang hat noch keine akademischen Rebellen hervorgebracht, Joggen zu zweit keine Revolution entfacht. Es entstehen weniger Beziehungen, weniger Netzwerke, weniger Zukunftsträume. Wie Mehltau liegt die Corona-Krise über einer ganzen Studierendengeneration.

Dabei müsste es an Hochschulen wie bei einem Bienenschwarm zugehen: aufgeregt, kreativ, übermütig und unermüdlich auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Denn eigentlich sind sie Kaderschmieden für akademische Ausnahmetalente, Basisstationen für experimentelles Denken und Forschen, Nährboden für innovative Konzepte und neue Lebensentwürfe. Aber es nützt ja nichts, Vorlesungen werden zurzeit als pandemische Hotspots eingestuft. Seit Beginn dieser Krise verhalten sich die Studierenden daher, wie man es gerade von der am wenigsten gefährdeten Gruppe erwartet: regelkonform und unauffällig, damit kein Superspreading entsteht. Sie jammern nicht und fügen sich. Verschanzt in ihrer Bude, sind sie eher unsichtbar, leiden aber still vor sich hin. Dabei entspricht das nicht ihrem Naturell. Junge Menschen zwischen 18 und 25 wollen raus aus ihrer WG, ihre Kräfte messen und die Welt verbessern.

Bislang kein klassisches Studentenleben

Stattdessen zeichnet sich ab, dass die Unis ganz am Ende der Kette stehen, wenn es um die Normalisierung von Alltag geht – und sie vermutlich nicht einmal zum Herbst wiedereröffnen. Fast drei Millionen junge Erwachsene kämpfen daher tagtäglich mit dem wachsenden Frust des Alleinseins, aufkommenden Depressionen und auch Resignation. Ihr einziger Radius ist der heimische Schreibtisch. Ablenkungen bleiben Illusion. Sehnsüchte ersticken im Keim. Das gestohlene Jahr Leben gibt ihnen niemand zurück.

Auch Theresia L. hatte sich im letzten Oktober ihren Studienbeginn in Heidelberg anders vorgestellt. Biochemie – eigentlich ihr Traumstudiengang mit nur 25 handverlesenen Teilnehmern in jedem Semester und einem anspruchsvollen Bewerbungsverfahren – entpuppte sich nicht als das, was sich die 18-Jährige für die Zeit nach dem Abi erhofft hatte. "Das klassische Studentenleben kenne ich nur vom Hörensagen. Alle hatten mir davon vorgeschwärmt, gesehen habe ich davon bis heute nichts. Die Erstsemester-Woche, bei der man sonst das Unigelände mit einem Mentor erkundet, eine Schnitzeljagd macht oder an jeder Ecke Studienkollegen kennenlernt, ist ausgefallen. Was ich erlebe, sind endlose Stunden am PC, Online-Vorlesungen mit 500 Zuhörern – auch aus den Fächern Physik, Mathe und Geowissenschaften – die aber kein Mensch sieht und die von daher anonym bleiben."

Gegenseitige Hilfe beim Lernen zu zweit nicht möglich

Eigentlich bleibe jeder für sich, denn die Bildung von Arbeitsgruppen, um den komplexen Stoff gemeinsam anzugehen, sei zu riskant. "Für ‚Erstis’ aber ist das eine wichtige Chance, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen", betont die gebürtige Bonnerin. "Die Enttäuschung über alles, was gerade nicht geht, sitzt daher tief."

Der einzige Lichtblick bislang die wenigen Labortage mit praktischen Arbeitseinheiten am Anfang, als die Lockerungen so etwas wie eine Ahnung von Normalität ermöglichten. "Da habe ich Leute kennengelernt. Das war einfach toll, rückblickend sogar etwas Besonderes." Aber auch hier halten Hygienekonzepte den Einzelnen auf Abstand. "Jeder hatte seinen eigenen Arbeitsplatz. An das sonst übliche Lernen zu zweit, bei dem man sich gegenseitig hilft, war nicht zu denken. Dabei habe ich noch nie zuvor selbständig in einem Labor experimentiert. Alles war ungewohnt, neu und eine einzige große Herausforderung. Auch die vielen Übungsblätter, die man sonst zusammen durchgeht, nun aber im Alleingang digital bewältigen soll." Mit einem Mal habe sie sich noch einsamer als ohnehin schon in dieser Krise gefühlt, sagt die Studentin. "Da landet man zwangsläufig in einem Tunnel, sieht nur noch die Einschränkungen und erlebt jede Prüfungssituation als Mega-Stress."

Erst einmal ein Praktikum und sich neu orientieren

Theresia ist eine von den vielen, denen Corona zum Verhängnis geworden ist: die einen regelmäßigen Austausch vermisst und auch eine individuelle Unterstützung. Die die meisten ihrer Dozenten nur von Video-Konferenzen kennt. Und die sich eine feste Tagesstruktur in einem Alltag, bei dem wesentliche Ankerpunkte pandemiebedingt wegfallen, selbst schaffen muss. Das ist schwer, für sie zu schwer. Seit Januar pausiert sie nun. Das Studium der Biochemie mit dem Berufsziel Humangenetik hat sie erst einmal auf Eis gelegt. "Die Mischung aus fachlicher Überforderung und einem fehlendem Ausgleich – zum Beispiel in gemeinschaftlichen Chorproben oder bei Freizeitaktivitäten mit Spaßfaktor – hat die Entscheidung, erst einmal eine Auszeit zur Neuorientierung zu nehmen, zweifelsohne befördert", reflektiert Theresia ihre Entscheidung. Und sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie das auch als ein persönliches Scheitern empfindet. 

Trotzdem: Aufgeben will die junge Studentin nicht. "Heidelberg ist toll, die Uni super.“ Vielleicht sei der Start in speziell diesem Studium unter Coronabedingungen einfach nicht ideal für sie gelaufen. Nun arbeitet sie vorübergehend erst mal in einem katholischen Verein, der sich für Frauenbildung stark macht. „Ich muss mich ja beschäftigen." Und wer weiß, vielleicht steigt sie zum Herbst wieder neu ein in den Uni-Betrieb. Dann aber eventuell mit einem ganz anderen Fach. Vorher aber steht noch ein Praktikum im Heidelberger Zoo an. "Meine Pläne begraben habe ich noch nicht. Ich will’s noch mal wissen", macht sie sich selbst Mut, „ob es am Ende nicht doch die Biowissenschaften sein sollen."


Quelle:
DR